Medien

Debattenschau № 79: Delo Seti – Aktivismus vs. Journalismus?

„Vier gingen in den Wald, und nur zwei kamen heraus“ – so heißt die investigative Recherche von Meduza, die das Exilmedium am Abend des 21. Februar veröffentlicht hat. Noch nie wurde das liberale Medium so scharf aus der liberalen Ecke Russlands kritisiert, wie nach dem Erscheinen dieses Artikels.

In der Untersuchung liefert Meduza Hinweise darauf, dass einige der am 10. Februar im sogenannten Fall Set (dt. Netzwerk) verurteilten Männer 2017 einen zweifachen Mord begangen haben.

Der Fall der angeblichen Terrororganisation Set rief in Russland eine Welle der Kritik hervor: Die zu sechs- bis 18-jährigen Haftstrafen Verurteilten haben ihre „Geständnisse“ nachweislich unter Folter abgelegt, die Menschenrechtsorganisation Memorial listet sie als politische Gefangene, tausende Menschen protestieren seit Wochen und fordern auch mit ihren Unterschriften die Freilassung.

Und nun sollen zwei der verurteilten Männer Mörder sein? Zumindest behaupten das die Quellen von Meduza. Diese geben außerdem an, dass es in der Stadt Pensa eine linke und anarchistische Gruppierung namens 5.11 gegeben hat. Und dass manche von den Verurteilten dieser Gruppierung angehörten und mit Drogen gehandelt hätten.

Meduzas Material wirkt auf viele roh und unaufbereitet. Der Artikel fußt streckenweise auf nicht nachprüfbaren Aussagen von Informanten; einige der Beobachter kritisieren auch, dass Meduza nur belastende Hinweise bringt und keine möglichen Hinweise auf Entlastung liefert.

Darf ein unabhängiges Medium in die Hände der Folterjustiz spielen und zum Helfershelfer des FSB werden? Oder muss es zwecks eines höheren Ziels Hinweise vorenthalten? Darf es nur Fakten liefern, und nichts anderes als Fakten? dekoder steckt die Eckpunkte einer hitzigen Diskussion ab.

Quelle dekoder

Meduza: Schwieriger Balanceakt

Meduza hat sich schon im Vorfeld der Veröffentlichung zu den Mordverdächtigungen in einem Dilemma gewähnt und brachte parallel zu der Publikation eine Stellungnahme:

Deutsch
Original
Wir sind uns bewusst, dass dies ein schwerer Schlag für alle ist, die die Verurteilten unterstützen. Für ihre Familien und Angehörigen. Für diejenigen, die auf die Straße gehen, um gegen Ungerechtigkeit zu protestieren. In unseren Köpfen fügen sich noch immer viele Fakten nicht zusammen, wir als Journalisten haben aber kein Recht, solche wichtigen Informationen zurückzuhalten.
Мы отдаем себе отчет, что это тяжелый удар для всех, кто поддерживает фигурантов дела. Для их родных и близких. Для тех, кто выходит на улицы, чтобы протестовать против несправедливости. Многие факты у нас по-прежнему с трудом укладываются в голове, но и скрывать такую важную информацию мы как журналисты не имеем права.

Original, veröffentlicht am 21.02.2020

MBCh-Media: Friendly Fire

Die Menschenrechtlerin und Journalistin Soja Swetowa geht auf MBCh-Media hart ins Gericht mit der Meduza-Veröffentlichung:

Deutsch
Original
Die Veröffentlichung des Artikels über eine mögliche Beteiligung Dimitri Ptschelinzews und anderer Verurteilter im Fall Set an einem zweifachen Mord schadet der breiten gesellschaftlichen Kampagne zu ihrer Verteidigung. Sie diskreditiert sie, indem Zweifel gestreut werden, ob die Verurteilten denn wirklich verteidigt werden müssen.

Die schwache Beweislage in dem Artikel überzeugt nicht von einer Zweckdienlichkeit der veröffentlichten Informationen – sie lassen Zweifel aufkommen an ihrer Glaubwürdigkeit und sind gesellschaftlich nicht dermaßen bedeutend, als dass für ihre Veröffentlichung derartige Eile geboten gewesen wäre.

Im Grunde spielt die Publikation den „Fabrikanten“ des Falles über eine nichtexistente terroristische Organisation in die Hände.

Das kann noch weit schlimmere Folgen haben: Die Ermittlung wegen zweifachen Mords im Wald von Rjasan wird aufgerollt und den in Pensa schon wegen Terrorismus Verurteilten angedichtet.

Ich kann mir nur schwer vorstellen, dass für die Gerechtigkeit und Freiheit von Menschen, die des Mordes beschuldigt werden, diejenigen kämpfen werden, die bereit waren, sie zu verteidigen, als aus ihnen unter Folter Angaben über die Beteiligung an einer nichtexistenten terroristischen Organisation herausgeprügelt wurden.

[...] публикация статьи о возможной причастности Дмитрия Пчелинцева и других осужденных по «пензенскому делу» к двойному убийству вредит широкой общественной кампании в их защиту, дискредитирует их, вызывая сомнение в необходимости их защищать. А слабая доказательная база, приведенная в статье, не убеждает в целесообразности публикации информации, которая вызывает сомнения в ее достоверности и не является столь общественно значимой, что оправдывает спешку с ее обнародованием.
А по сути, публикация играет на руку «фабрикантам» дела о несуществующей террористической организации.
Она может привести и к еще худшим последствиям: следствие по делу о двойном убийстве в рязанском лесу возобновят и сфальсифицируют причастность к нему тех, кого уже осудили в Пензе по терроризму.
Мне трудно представить, что за справедливость и свободу людей, обвиненных в убийстве, будут бороться те, кто был готов защищать их, когда у них под пытками выбивали показания об участии в несуществующей террористической организации.

Original, veröffentlicht am 22.02.2020

Facebook/Kirill Martynow: Aktivismus vs. Journalismus?

Für Kirill Martynow, Politikredakteur von der Novaya Gazeta, ist die Sache nicht ganz so klar: Meduza habe zwar Fehler gemacht, die Kritiker würden aber die Grenzen zwischen Aktivismus und Journalismus verkennen:

Deutsch
Original
Das Meduza-Material über die mögliche Mitwirkung von Set-Verurteilten an Mordfällen, und insbesondere die Reaktion darauf, zeugen vor allem von der Tiefe der Gesellschaftskrise, in der Russland steckt.

Erstens ruft es nicht den geringsten Unmut hervor, wenn die russische Strafverfolgung einen Mordfall nicht untersucht, niemand weist darauf hin. Die Handlungsunfähigkeit des Systems wird als Norm angesehen.

Zweitens liest sich der Meduza-Artikel entweder wie eine Bekräftigung der FSB-Version (und Propaganda), dass nämlich die im Fall Set Beschuldigten ihre Haftstrafen verdient hätten, oder wie die Diskreditierung der öffentlichen Kampagne zu ihrer Verteidigung. Tatsächlich ist weder das eine noch das andere der Fall. Wenn Menschen unter Folter wegen Terrorismus verurteilt werden, die aber tatsächlich laut den Quellen von Meduza einen Mord begangen haben, dann sollten sie zunächst vom Terrorismus freigesprochen und erst danach der Mordfall aufgerollt werden – falls denn die Beschuldigungen offiziell erhoben werden. Übrigens: Mörder haben in Russland, anders als Terroristen, ein Recht auf ein Geschworenengericht, was den Geheimdiensten solche Prozesse enorm erschwert.

Im Bewusstsein der Menschen ist nun endgültig die Grenze zwischen Aktivismus und Journalismus aufgehoben: Sie denken, dass Journalisten bei öffentlichen Kampagnen zum Schutz von Verurteilten eindeutig mitmachen oder zumindest schweigen müssen. Das ist natürlich nicht richtig: Wenn sie gesellschaftsrelevante Informationen haben, dann veröffentlichen sie diese – denn das ist ihr Job. Die Aufgabe der Gesellschaft ist es dann, das Gesagte zu interpretieren und daraus Schlüsse ziehen. Die Logik der Medien kann man nicht mit der Logik der Menschenrechtsarbeit gleichsetzen – das sind schlicht unterschiedliche Gebiete.

Zu der Veröffentlichung von Meduza gibt es auch Fragen. Die Zeit der Veröffentlichung ist seltsam – Freitagabend, am Tag vor langen Feiertagen. Jenseits jeder Verschwörung kann man das damit erklären, dass die Redaktion befürchtet hat, dass irgendjemand sonst die Informationen hatte und den Journalisten damit zuvorkomme. Alles um den Fall Set ist mit Provokateuren infiltriert, nach Durchlesen des Textes habe auch ich das Gefühl, dass die Meduza-Journalisten Opfer solcher Provokateure wurden – die Eile mit der Veröffentlichung ist nur ein weiterer Hinweis darauf. Um das Mißtrauen zu zerstreuen, hätte Meduza einen Disclaimer darüber veröffentlichen sollen, wie genau diese Investigation gemacht wurde. Das wurde nicht getan, und das ist der größte Schwachpunkt dieser journalistischen Arbeit.

Noch ein Mal: Im Fall der „terroristischen Organisation“ Set gibt es keine Beweise. Dafür gibt es Folter. Die Urteile in diesem Fall müssen aufgehoben werden.

Материал «Медузы» о возможной причастности фигурантов дела «Сети» к убийствам и особенно реакция на него свидетельствует в основном о глубине общественного кризиса, который переживает Россия.

Во-первых, история о том, что российская правоохранительная система не расследует убийства, не вызывает ни малейшего возмущения, ее никто вообще не замечает. Недееспособность этой системы воспринимается как норма.
Во-вторых, публикация «Медузы» воспринимается либо как подтверждение версии ФСБ (и пропаганды) о том, что обвиняемые по делу «Сети» заслуживали сроков, либо как дискредитация общественной кампании по их защите. В действительности, ни того, ни другого не происходит. Если людей под пытками судят за терроризм, а на самом деле по версии источников «Медузы» они совершили убийство, то сначала они должны быть оправданы по делу о терроризме, а потом должно быть разбирательство по убийству - если такие обвинения будут официально предъявлены. К слову, убийцы в отличие от «террористов» имеют в России право на суд присяжных, что сильно усложняет спецслужбам такие процессы.

Наконец, граница между активизмом и журналистикой окончательно стерлась в сознании людей: предполагается, что если идет общественная кампания в защиту осужденных, то журналисты должны в ней явно участвовать или как минимум молчать. Это, конечно, не так, если у вас есть общественно значимая информация, вы ее публикуете, в этом ваша работа, а задача общества - интерпретировать сказанное и делать выводы. Медийная логика не идентична правозащитной, но и не отрицает последнюю – это просто разная работа.

К публикации «Медузы» тоже есть вопросы. Странно выбрано время публикации – пятница вечер накануне длинных праздников. Без конспирологии это может объясняться тем, что в редакции опасались, что информация может быть у кого-то еще, и журналистов опередят. Пространство вокруг «Сети» инфильтровано провокаторами, и после прочтения текста у меня нет ощущения, что журналисты «Медузы» не оказались их жертвами - спешка с публикаций только вносит здесь дополнительные сомнения. Для того, чтобы снять подозрения, «Медузе» стоило бы опубликовать дисклеймер о том, как именно готовилось это расследование. Этого сделано не было, и это самый крупный минус работы журналисты.
И еще раз: в деле о «террористической организации» «Сеть» нет доказательств, но есть пытки, приговоры по этому делу должны быть отменены.

Original, veröffentlicht am 22.02.2020

dekoder-Redaktion

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Rechtsstaatlichkeit

Immer wieder belegt Russland in internationalen Rankings zur Rechtsstaatlichkeit Plätze in den hinteren Reihen. So auch im Rule of Law Index 2019 des World Justice Project: Hier findet sich Russland auf Rang 88 von 126 Staaten.1 Auffallend in der Analyse sind Russlands Platzierungen in zwei Kategorien: Bei Menschenrechten befindet sich das Land punktgleich mit Sambia und Tansania auf Platz 104, in der Kategorie „Bindung von Regierung und Staat an Recht und Gesetz“ steht Russland auf Rang 112, punktgleich mit Honduras.

Ist Russland also kein Rechtsstaat, obwohl die Verfassung von 1993 dies erklärt und Russlands Mitgliedschaft im Europarat ein Bekenntnis zur Rechtsstaatlichkeit mit sich bringt? Zwar entspricht die Rechtswirklichkeit in keinem Land der Welt allen Anforderungen des Rechts. Doch ist die Kluft zwischen Recht und Rechtswirklichkeit laut World Justice Project in den meisten Staaten kleiner als in der Russischen Föderation. Im Kreis der Europarat-Mitglieder schneidet allein die Türkei noch schlechter ab.

Der russische Begriff prawowoje gosudarstwo ist eine Lehnübersetzung vom deutschen „Rechtsstaat“. Beide Begriffe sind etwas missverständlich. Denn durch das Bekenntnis zur Herrschaft des Rechts (Rule of Law) verkehren sich die historischen Voraussetzungen: Freiheit und Recht existieren nicht mehr, weil sie ein starker Staat garantiert, sondern im Gegenteil – der Staat existiert, weil Freiheit und Recht ihn erschaffen. Recht ist Grundlage allen staatlichen Handelns. Handelt ein Staat außerhalb des rechtlich vorgegebenen Rahmens, dann handelt er nicht rechtsstaatlich.

Schwammige Rechtsbegriffe

De jure bietet die russische Verfassung auf vielen Ebenen einen starken Schutz vor staatlicher Willkür. Zum Beispiel erhebt sie den Gang vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) zum Grundrecht aller Russen. 
De facto besteht in Russland aber ein starkes Spannungsverhältnis zwischen Staatsgewalt und Verfassung: Sehr oft kippt es zugunsten der Staatsgewalt, unter anderem wegen der Schwäche solcher Kontrollorgane wie des Verfassungsgerichts oder des Parlaments. Die russische Staatsgewalt nutzt Recht und Gesetz oftmals allein als Mittel des Machterhalts. Sowohl Parlament als auch Justiz stützen diese Herangehensweise eher, als dass sie ihr entgegentreten.

Damit gilt in Russland nur eines von sechs wesentlichen Elementen, die die Venedig-Kommission herausgearbeitet hatte – nämlich nur Gesetzlichkeit auf formeller Ebene. Die Kommission dagegen hatte etwa auch festgehalten, dass der Gesetzgebungsprozess transparent, nachvollziehbar und demokratisch sein muss. Rechtssicherheit muss gewährleistet sein, es gibt unter anderem auch ein Willkürverbot, und jeder muss Zugang zu unabhängigen und unparteiischen Gerichten haben. Neben der Verpflichtung zur Achtung der Menschenrechte besteht auch ein Diskriminierungsverbot, das unter anderem Prinzipien des Pluralismus garantiert.2

Die Verfassungen der meisten Mitgliedstaaten gehen über diese Anforderungen und Mindestmaße an Rechtsstaatlichkeit auf der einen oder anderen Ebene deutlich hinaus. In Russland dagegen sind Gesetze zwar formell Grundlage staatlichen Handelns, diese Gesetze – und damit letztlich wiederum auch das staatliche Handeln – entsprechen aber faktisch nicht den materiellen Anforderungen der Rechtsstaatlichkeit.

Schwammige Definitionen

Daraus haben sich in den vergangen Jahren viele Probleme entwickelt, die auch internationale Aufmerksamkeit erregten. Schwammige Definitionen der Rechtsbegriffe, die bei entsprechender Argumentation beliebig angewendet werden können, wurden in entscheidenden Gesetzen implementiert. So kann zum Beispiel ein kritischer Artikel als extremistisch eingestuft werden, wenn darin von „ukrainischer Krim“ die Rede ist – stellt er doch die gesetzmäßig verankerte territoriale Integrität Russlands in Frage. 
Auch der Begriff der politischen Tätigkeit ist im sogenannten Agentengesetz äußerst vage formuliert: Darunter fällt beispielsweise auch die Tätigkeit des Meinungsforschungsinstituts Lewada. Länger bekannt sind die Gummiparagraphen zum sogenannten Chuliganstwo (Rowdytum) oder zur Verletzung religiöser Gefühle, die bei der Verurteilung von Pussy Riot-Mitgliedern Anwendung fanden. Seit 2013 gibt es auch den Rechtsbegriff der sogenannten Propaganda von nicht-traditionellen sexuellen Verhältnissen. Damit indizierte beispielsweise die Medienaufsichtsbehörde Roskomnadsor 2018 die Website Gay.ru und setzte sie auf die schwarze Liste mit gesetzwidrigen Medien und Inhalten. Neueren Datums ist die missverständliche Legaldefinition von sogenannten Falschnachrichten oder respektlosen Äußerungen über Vertreter der Staatsmacht im Internet. Beide Gesetze traten im März 2019 in Kraft, bei konsequenter Anwendung werden sie den Meinungspluralismus in Russland zusätzlich einschränken.

Kein politischer Wert?

Da die Eingriffstatbestände dieser Gesetze derart weit und unbestimmt formuliert sind, standen sie immer wieder wegen der Gefahr der Willkür zur Diskussion. In Hinsicht auf Agentengesetze unternahm der Gesetzgeber Präzisierungsversuche, weitete den Begriff jedoch letztlich aus, anstatt den Interpretationsrahmen zu verengen. Angesichts der Vielzahl dieser unbestimmten Regelungen und des offenkundigen Unwillens des Parlaments, auf die Kritik an den genannten Gesetzen zu reagieren, ist der Schluss naheliegend, dass die Rechtsstaatlichkeit in Russland keinen politischen Wert darstellt.

Dass nicht nur eine Gefahr der staatlichen Willkür besteht, sondern die Gesetze tatsächlich willkürlich Anwendung finden, zeigen viele, teils höchstinstanzliche Gerichtsverfahren zu den genannten Tatbeständen.3 So wurde ein Tierschutzverein zunächst zum ausländischen Agenten erklärt, obwohl das Gesetz den Tierschutz als „nicht-politisch“ deklariert, weil er dem Gouverneur eine Jagdsaison vereiteln wollte. Die Rechtsanwendung ist uneinheitlich und hängt stark von der jeweiligen Person oder Gruppe ab, auf die das Gesetz angewendet werden soll. Andersdenkende generell – aber insbesondere Oppositionelle, Minderheiten und Menschenrechtsorganisationen – leiden am meisten unter den Möglichkeiten, die die vagen Gesetze der Staatsgewalt bieten.

Vor allem die Rolle der Staatsanwaltschaft ist dabei von Bedeutung. Nach dem Ende der Sowjetunion büßte sie Kompetenzen ein, ist jedoch noch immer eine einflussreiche Einrichtung in direkter Nähe zur politischen Machtzentrale. Anträge der Staatsanwaltschaft werden von Richtern häufig nur „durchgewunken“. Eine selbständige, geschweige denn kritische Auseinandersetzung mit der Rechtseinschätzung der Staatsanwaltschaft findet oftmals nicht statt. Die Justiz erscheint somit als verlängerter Arm der Exekutive. Die Gewaltenteilung ist an dieser Stelle faktisch aufgehoben.

Abhängigkeiten der Richter

Sowohl die russische Verfassung als auch der Europarat legen die Unabhängigkeit der Richter als grundlegendes Prinzip der Rechtsstaatlichkeit fest. Doch auch der Justizapparat konnte sich nach seiner Reform 1991 nicht grundlegend verändern. So werden Richter in Russland vom Staatspräsidenten ernannt. Die berufenen Richter stehen in starker Abhängigkeit zu ihrem Gerichtspräsidenten, der frei über die Zuweisung der Fälle entscheidet und selbständig und auf Anweisung informelle Anweisungen zur Urteilstendenz gibt. Eine Weigerung den Weisungen zu folgen, kann disziplinarrechtliche Konsequenzen haben. Zudem kann einem Richter das Verfahren in jedem Stadium entzogen werden. Es gibt viele Fälle, in denen Richter und auch Gerichtsvorsitzende, die auf unabhängigen Entscheidungen beharrten, ihre Posten verloren. Zudem ermöglicht ein sogenanntes Aufsichtsverfahren der Staatsanwaltschaft, gegen jedes Urteil zu protestieren, wonach die richterliche Entscheidung überprüft werden kann. Einem karriereorientierten Richter werden damit Anreize geboten, sich auch ohne direkte Anweisung bei seinem Vorsitzenden zu erkundigen, welches Urteil das geringste Risiko birgt, wieder aufgehoben zu werden. Denn dieser entscheidet zu guter Letzt auch über die Zuweisung von Bonuszahlungen und Dienstwohnungen.

Das russische Verfassungsgericht sorgte zu Beginn seiner Tätigkeit mit mutigen Urteilen dafür, dass man es als die „Krönung des Rechtsstaats“ wahrnahm.4 Aus der Verfassungskrise 1993 ging es jedoch geschwächt hervor und entwickelte sich in der Regierungszeit Putins zu einem Verfechter der Machtvertikale. Nahezu absurderweise vertritt insbesondere der Verfassungsgerichtspräsident Waleri Sorkin eine Konzeption des starken Staats, dessen Schutz im Mittelpunkt stehen müsse, da dieser (und nicht die Verfassung) der Garant der Stabilität und die Voraussetzung für die Freiheit sei. Sorkin ist zudem der Auffassung, dass Minderheitenrechte und der Schutz von Andersdenkenden nur soweit gehen dürfen, wie es die Mehrheit wünsche. 
Beide Positionen sind mit dem Pluralismus des modernen Rechtsstaats – und der russischen Verfassung – unvereinbar. Zwar sind die Entscheidungen des Verfassungsgerichts immer noch wichtig. Die persönliche Rechtsauffassung des Verfassungsgerichtspräsidenten spiegelt sich jedoch deutlich in der Spruchpraxis des Gerichts, das sich in politischen Fragestellungen im Zweifel nicht gegen die Machthaber stellt.

Demokratischer Sonderweg?

Neben diesen institutionellen Schwächen, erscheint die Vielfalt der Verfassungskritik als problematisch. Sowohl der staatsnahe als auch der regimekritische Teil des Diskurses drehen sich immer um die Notwendigkeit von Verfassungsänderungen: Während die eine Seite die Verfassung als Exzess des Individualismus und Liberalismus kritisiert, sehen die Anderen die Machtkonzentration beim Präsidenten und somit die autoritären Entwicklungen des Landes als verfassungskonform. In dieser Kritik wird der Bedeutungsverlust der Verfassung und des in ihr verbrieften Rechtsstaats in Russland deutlich.

Oftmals wird in diesem Zusammenhang auf die rechtsnihilistischen Traditionen Russlands verwiesen, die letztlich von Slawophilie bis zur  sogenannten souveränen Demokratie reichen sollen. Außerdem argumentieren die Kritiker, dass die Werte der Verfassung von 1993 keine eigenen seien, sondern aus „dem Westen“ übernommen oder durch ihn aufgezwungen worden seien.

Tatsächlich ist nach dem Ende der Sowjetunion zwar viel Neues aus dem Westen übernommen worden, demokratische Ideen und das Konzept der Rechtsstaatlichkeit waren dabei aber nicht vollkommen fremd: Sowohl in sowjetischer als auch zarischer Zeit spielte die Idee des Rechtsstaats im juristischen Diskurs immer wieder eine bedeutende Rolle. Das Narrativ der rechtsfremden russischen Kultur ist auch deshalb ein Klischee, weil sich russische Rechtsgelehrte schon im 19. Jahrhundert intensiv mit rechtlichen Ideen und Konzepten ihrer Zeit auseinandersetzten und sich intensiv an der internationalen rechtswissenschaftlichen Debatte zur Rechtsstaatlichkeit beteiligten: Sei es um die Ideen zu unterstützen, sei es, um ihnen zu widersprechen. Dieser Austausch kann einzig als Ausdruck des damaligen politischen Willens zur Öffnung verstanden werden.

Durch die Oktoberrevolution brach der den Rechtsstaat unterstützende Teil des öffentlichen Diskurses freilich weg. Nichtsdestotrotz beschäftigten sich die sowjetischen Rechtswissenschaften weiterhin mit dem Rechtsstaat, wenngleich als dessen Opponenten. Das Konzept wurde nach dem Ende der Sowjetunion also keineswegs von der westlichen Staatenwelt ausgeborgt, es kam vielmehr zurück in einen konstitutionellen Kontext, in dem es sich samt seiner positiven Bewertung vor 1917 bereits befand.

Klare Worte für die Entwicklung des Rechtsstaats in Russland findet die ehemalige Verfassungsrichterin Tamara Morschtschakowa. Sie meint, dass es nicht die Besonderheiten der russischen Kultur oder Mentalität seien, die den Rechtsstaat in Russland unterminierten. Vielmehr, so Morschtschakowa, würden die Gegenreformen seit dem Amtsantritt von Wladimir Putin die Rechtsstaatlichkeit untergraben. Insgesamt schlägt das Pendel der Bewertung von Recht und Rechtsstaat in Russland seit dem Anfang der 2000er Jahre zurück ins Negative.

Diese Tendenz setzt sich auch auf völkerrechtlicher Ebene fort. Bisher schuf der EGMR einen rechtsstaatlichen Ausgleich für die innerrussischen Defizite. Seit der Annexion der Krim ist das Verhältnis Russlands zum Europarat aber gestört: Russland wurde das Stimmrecht in der Parlamentarischen Versammlung entzogen, als Reaktion setzte es die Beitragszahlungen an den Europarat aus. Seit 2015 müssen EGMR-Urteile außerdem vom Verfassungsgericht darauf geprüft werden, ob sie nicht gegen die russische Verfassung verstoßen – eine gravierende Einschränkung der Entscheidungen des EGMR in Russland.

Vor diesem Hintergrund war es für viele überraschend, als Russland im Juni 2019 sein Stimmrecht im Europarat zurück bekam. Eigentlich war das Ende des Entzugs an eine Bedingung geknüpft: die Rückgabe der Krim. Da Russland dadurch allerdings immer mehr aus dem europäischen Menschenrechtsrahmen fiel, entschieden die Abgeordneten, diese Sanktionen gegen Russland wieder rückgängig zu machen.

Befürworter dieses Schrittes argumentieren, Russlands Abwendung von Europa sei damit zumindest zum Teil gestoppt worden. Demgegenüber betonen die Kritiker, dass die europäische Politik vor Russland eingeknickt sei – schließlich habe das Land keinen Schritt zur Veränderung der Situation unternommen. Viele russische Menschenrechtler sprachen sich dagegen schon im Vorfeld für die Aufhebung der Europarat-Sanktionen aus: Der Gang nach Straßburg, so die Argumentation, sei für russische Bürger die letzte Instanz für ihren Menschenrechtsschutz.

Stand: 25.06.19


1. World Justice Project: Rule of Law Index 2019 
2.European Comission for Democracy through Law (Venice Comission): Rule of Law Checklist 
3.Schmidt, Carmen (2006): Der Journalist als potentieller „Extremist“, in: Osteuropa-Recht Nr. 3, S. 409-415; Safoklov, Yury (2012): Das Pendel des russischen Versammlungsrechts, ebd., S. 67-89; Reeve, Benjamin: Kommentar zum Urteil des Verfassungsgericht der Russischen Föderation vom 08. April 2014, Nr. 10 : Paragraph „Ausländische Agenten“, in: Osteuropa-Recht Nr. 3, S. 372-376 
4.Nußberger, Angelika (2011): Verfassungsgerichtsbarkeit als Krönung des Rechtsstaats oder als Feigenblatt autoritärer Regime? Zu den rechtskulturellen Voraussetzungen für das effektive Wirken von Verfassungsgerichten am Beispiel des Russischen Verfassungsgerichts, JuristenZeitung, 65. Jahrg. Nr. 11, S. 533-540 
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