„We Should Say It. Russia Is Fascist“, schreibt Timothy Snyder in der New York Times vom 19. Mai 2022. Die Stimme des US-amerikanischen Historikers und Yale-Professors gilt weltweit als gewichtig und so sorgt seine These für kontroverse Diskussionen, vor allem auch unter russischen Intellektuellen.
Dabei ist die Frage, ob der Putinismus faschistisch ist, alles andere als neu: Zahlreiche Wissenschaftler wiesen schon in den 2000er Jahren darauf hin, welchen Einfluss russische Rechtsextreme wie etwa Alexander Dugin auf den russischen Präsidenten nehmen. Für viele Beobachter gehörten auch Vergleiche zwischen Russland unter Putin und der Weimarer Republik oder dem „Versailles-Komplex“ der Deutschen nach 1918 (Gerd Koenen) zu gängigen analytischen Mitteln.
Wegen seiner chauvinistischen und revanchistischen Rhetorik wurde Wladimir Putin schon in den 2000er Jahren mit Hitler verglichen, im Internet etablierte sich der Begriff Putler – auch wenn damals wohl kaum einer eine russische Invasion in die Ukraine für möglich hielt.
Sind solche Vergleiche überhaupt zulässig und falls ja – auch nützlich? Ergeben sie in wissenschaftlicher Sicht einen Sinn? Können sie gar den öffentlichen Diskurs bereichern? Verhindern, dass die Geschichte sich wiederholt? dekoder bringt russische Stimmen aus der Debatte.
Golossow/Facebook: Wissenschaft vs. Journalismus
Der russische Politikwissenschaftler Grigori Golossow hält nicht viel von Snyders Thesen. Auf Facebook argumentiert er, dass sie unwissenschaftlich seien:
erschienen am 25.05.2022, Original
Judin/Re:Russia: Nicht einfach ein „autoritäres Regime“
Im Gegensatz zu Golossow zog der russische Soziologe Grigori Judin bereits kurz nach dem 24. Februar Vergleiche zwischen Russland und Hitlerdeutschland: „Die naheliegendste Analogie sind die Jahre 1938/39“, so Judin in einem Interview Anfang März 2022. Auf dem neu gegründeten unabhängigen Portal Re:Russia stützt er in einem Debattenbeitrag nochmals seine Argumentation.
erschienen am 02.06.2022, Original
Etkind/Facebook: Feine Unterschiede
Ja, aber ... – so in etwa kommentiert der russische Historiker Alexander Etkind Snyders These.
Nazideutschland betrieb Revisionismus, Russland betreibt Revanchismus (bisher stellt es keinen Anspruch auf anderes Territorium als jenes, das ihm seiner Meinung nach früher gehört hat).
Deutschland brauchte natürliche Ressourcen, Russland weiß gar nicht, wohin mit seinen Bodenschätzen.
Deutschland begann mit einem Genozid an der eigenen Bevölkerung, Russland mordet das Volk eines anderen Staates (na gut, wahrscheinlich zählt die russische Regierung mit ihrem revanchistischen Weltbild die Ukraine zum eigenen Territorium).
Deutschland hatte mächtige Verbündete, die es nachahmte und auf die es zählte. Das heutige Russland hat seinen Faschismus allein erfunden. [...]
In Deutschland und auch früher schon in Italien förderte der Faschismus (genauso wie der Stalinismus) soziale Aufstiegsmöglichkeiten. Der Putinismus hat diese Wege längst abgeschnitten und sieht das nicht als Problem.
Der Faschismus erschien in den ersten Jahren seines Erfolgs (vor Pearl Harbor und dem Hitler-Stalin-Pakt) so manchem als progressive Kraft. Der Putinismus ist mittlerweile schon allen verhasst.
So sieht also unser Faschismus aus.
нацистская Германия была ревизионистской силой, Россия реваншистская сила (она пока не претендует на другие территории кроме тех что считает что ей раньше принадлежали).
Германия нуждалась в природных ресурсах, России некуда деть свои ресурсы.
Германия начала с геноцида собственного населения, Россия занимается геноцидом в другом государстве (ну ок, может ее правители в реваншистском духе считает Украину своей территорией).
Германия имела могущественных союзников, им подражала и на них рассчитывала. Нынешняя Россия сама изобрела свой фашизм.
Германия рассчитывала на века военного и политического господства. У нынешней России месяцы.
И в Германии, и еще раньше в Италии фашизм открыл пути вертикальной мобильности (как это сделал и сталинизм). Путинизм их давно закрыл, и проблемы в этом не видит.
Фашизм в первые года своего успеха (до Пирл Харбора, до Молотова Риббентропа) кому то казался прогрессивной силой. Путинизм стал ненавистен всем.
вот такой у нас фашизм
erschienen am 29.05.2022, Original
Kurilla/Re:Russia: Höllischer Brei
Zahlreiche Analysten haben in vergangenen Jahren den Putinismus als einen (höllischen) Brei beschrieben: als ein Durcheinander von sich größtenteils widersprechenden Ideologien, die die russische Propaganda in jahrzehntelanger Arbeit amalgamiert und zu einem großen Ganzen stilisiert hatte. Kommunismus, Orthodoxie, (biologistischer) Nationalismus, Stalinismus, Imperialismus, Mystizismus – das versatzstückweise Bedienen aus diesen Ideologien und Denkweisen bildet demnach die Grundlage des heutigen Putinismus. Das Fehlen einer stringenten Ideologie ist vor diesem Hintergrund auch für den russischen Historiker Ivan Kurilla ein Grund, nicht vom faschistischen Charakter des Systems Putin zu sprechen.
Die militärische Aggression der Mitte des 20. Jahrhunderts fußte auf dem Vertrauen der Führer auf ihre militärisch-ökonomische Überlegenheit über die vereinten gegnerischen Kräfte. Heute wird die „Unbesiegbarkeit“ vor allem durch den Besitz von Kernwaffen sichergestellt. Diese Garantie senkte entgegen aller Erwartung die Hemmschwelle, einen Krieg zu beginnen.
Schlussendlich sehen wir, dass der Krieg nicht unter dem Banner einer neuen Ideologie begonnen hat, sondern unter Verwendung einer Sprache aus der Mitte des letzten Jahrhunderts als ideologischer Eklektizismus. Versuche, mit dem Buchstaben Z oder einer weißen Armbinde neue Symbole einzuführen, fanden keine massenhafte Unterstützung, weswegen wir eine ungehemmte, spontane Rückkehr zur sowjetischen Symbolik beobachten – rote Fahnen und Lenin-Denkmäler. Die moderne russische Symbolik ist jedoch mit keiner „großen Idee“ verbunden, in deren Namen man gegen die Nachbarn in den Krieg ziehen könnte.
Наконец, мы видим, что война началась не под флагом новой идеологии, а с использованием языка середины прошлого века в ситуации идейной эклектики. Попытки предложить новую символику в виде буквы Z или белой нарукавной повязки не нашли массовой поддержки, в результате чего мы наблюдаем стихийное возвращение советской символики — красные флаги и памятники Ленину. Но современная российская символика не связана с «большой идеей», и за нее нельзя идти воевать против соседей.
erschienen am 02.06.2022, Original
Laruelle/Re:Russia: Utopie?
Die französische Politikwissenschaftlerin Marlene Laruelle fragt auf Re:Russia, inwiefern das russische System tatsächlich als faschistisch gelten kann, wenn man – gemäß des britischen Historikers und Faschismusforschers Roger Griffin – Faschismus als eine Ideologie definiert, die eine nationale Wiedergeburt (Palingenese) durch Krieg propagiert und verherrlicht.
erschienen am 02.06.2022, Original