Um den Zerfall der Sowjetunion ranken sich in Russland heute viele Mythen. Die Schuldfrage für das, was Wladimir Putin 2005 als „größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“ bezeichnet hat, erhitzt in Russland immer noch viele Gemüter.
Für die einen war Gorbatschow der „Totengräber der Sowjetunion“. Für die anderen haben die USA den Sargnagel eingeschlagen: Während des Kalten Krieges hätten sie alles daran gesetzt, die Sowjetunion zu vernichten.
Steile These, meint Wirtschaftswissenschaftler Dimitri Trawin, die keiner Prüfung standhalte. In der Serie Mythen in Russland unter Putin in der Novaya Gazeta argumentiert er auch gegen diesen Mythos.
Kurz vor Silvester 1991 ist Michail Gorbatschow zurückgetreten, und damit war der Schlusspunkt unter die Geschichte der UdSSR gesetzt. Viele sind der Ansicht, dass es Amerika war, das unser Land damals zugrunde richtete. Es sind zwar bis heute keine Belege aufgetaucht, dass die CIA oder das US-Außenministerium Gorbatschow und Jelzin bezahlt hätten, doch das stört die Anhänger dieser Verschwörungstheorie nicht. Der Untergang der Sowjetunion aufgrund der Konfrontation der Großmächte erscheint ihnen vollauf logisch. Schließlich weiß ja jeder, dass wir uns mit Washington im Kalten Krieg befanden. Dass der wichtigste und gefährlichste Gegner die USA waren. Dass die Amerikaner daran interessiert waren, den Gegner zu schwächen. Und wenn es darum geht, ihn zu schwächen, dann heißt das nach Möglichkeit auch: ihn zu zerstören. Wenn nun die UdSSR zerfallen ist, bedeutet das also: Die in Übersee gesponnenen Intrigen haben schließlich gefruchtet.
Es sind bis heute keine Belege aufgetaucht, dass die CIA Gorbatschow und Jelzin bezahlt hätte, doch das stört die Anhänger dieser Verschwörungstheorie nicht
Einen überzeugten Verschwörungstheoretiker kann man nicht umstimmen. Aber mit vernünftig denkenden Menschen kann man über die Logik solcher Gedankengänge sprechen, weil ja das Bestreben, den Gegner zu schwächen, in der Tat kein Mythos ist. Das Vorhaben jedoch, die UdSSR vollständig zu Grunde zu richten, ist Mythos par excellence. Ein Zusammenbruch der UdSSR war nicht das Bestreben der USA. Gorbatschow war der amerikanischen Führung sympathisch. Sie hätte es lieber gesehen, dass er unser Land weiter regiert anstatt dass da, wo einst die Sowjetunion war, eine große Anzahl selbständiger Staaten mit unberechenbaren Herrschern entsteht. Natürlich gab es in den USA unverbesserliche Hardliner, die unser Land derart hassten, dass sie bereit waren, selbst dann dagegen vorzugehen, wenn es zum Schaden ihres eigenen Landes ist. Diese Leute haben aber keine Entscheidungen auf staatlicher Ebene getroffen und keinen Einfluss auf die praktische Politik gehabt.
Es hat womöglich einen Moment gegeben, an dem die USA tatsächlich einen Zerfall der UdSSR gewollt haben könnten, nämlich 1962, während der Kubakrise. Damals hatte Washington etliche Gründe anzunehmen, dass die Regierung in Moskau unberechenbar und die Wahrscheinlichkeit eines Atomkrieges sehr groß ist.
Danach allerdings gestaltete sich die Lage besser und besser. Für sie wie auch für uns. Zuerst gelang es, die Kubakrise zu bewältigen. Die UdSSR stationierte keine Raketen auf Kuba. Danach beseitigte die Parteiführung der UdSSR Nikita Chruschtschow, der unglaublich impulsiv war und imstande, mit dem Schuh auf das Rednerpult der UNO zu schlagen und zu verkünden, dass wir Amerika erledigen. An der Spitze des Sowjetregimes stand nun Leonid Breshnew, der den Zweiten Weltkrieg durchlebt hatte und daher dem Frieden zugeneigt war. 1972 setzten ernsthafte Kontakte zwischen Washington und Moskau ein. 1975 haben wir die Schlussakte von Helsinki unterzeichnet, in der die Unverletzlichkeit der Nachkriegsgrenzen in Europa anerkannt wurde. Es gab intensive Gespräche über Rüstungsbeschränkung für bestimmte Waffentypen.
Wir können also sagen: Wenn die Amerikaner Anfang der 1960er Jahre noch wirklich an die Möglichkeit eines Atomkrieges geglaubt und Luftschutzräume eingerichtet hatten, so war in den 1980er Jahren beiden Seiten bewusst, dass es keinen globalen Krieg geben wird.
In den 1980er Jahren war beiden Seiten bewusst, dass es keinen globalen Krieg geben wird
Die Führer der beiden Staaten beschimpften einander, und die Propagandisten verbreiteten ideologische Klischees, die einen Teil der Normalbürger beunruhigen sollten, die meisten ließen sich aber keine Angst mehr machen.
Und als Gorbatschow mit seinem Konzept des neuen Denkens kam und dann in ein Ende der sowjetischen Kontrolle über die Länder Mittel- und Osteuropas einwilligte, sank die Wahrscheinlichkeit eines Atomkrieges nahezu gegen null. Es sei denn, jemand hätte versehentlich den Roten Knopf gedrückt.
Eben jener Knopf führt uns vor Augen, dass die USA 1991 keineswegs einen Untergang der UdSSR wollten. Jeder noch so antiamerikanisch eingestellte Mensch wird nach einigem Nachdenken zugeben, dass die Wahrscheinlichkeit, dass jemand versehentlich den Knopf drückt, größer wurde, nachdem der zugängliche und berechenbare Gorbatschow abgetreten war. Außerdem stieg die Wahrscheinlichkeit eines ungewollten Krieges gar nicht so sehr wegen der Führungswechsel, sondern aufgrund des Zerfalls des Staatsapparates, der mit dem Untergang der Sowjetunion einher ging. Es kamen in den unterschiedlichen Republiken unterschiedliche neue Leute an die Macht. Mitunter ganz zufällig. Und die Atomwaffen hätten schlicht außer Kontrolle geraten, für Geld in die Hände von Terroristen oder Banditen gelangen können. Es gibt übrigens eine ganze Reihe amerikanischer Filme, die so anfangen, dass Privatleute in den Besitz von Massenvernichtungswaffen kommen wollen, um die ganze Welt zu erpressen. Hier werden in der Kunst recht genau tatsächlich bestehende Ängste abgebildet.
Die USA wollten allein wegen ihrer eigenen Sicherheit keinen Zerfall der UdSSR
Die USA wollten also allein wegen ihrer eigenen Sicherheit keinen Zerfall der UdSSR. Und nachdem dieser dennoch eingetreten war, wollten sie ein starkes, verlässliches Russland, das die Atomwaffen aus den anderen postsowjetischen Staaten übernimmt. Die verbreitete Vorstellung, dass der Kalte Krieg unbedingt auf einen Zweikampf der Kontrahenten hinauslaufen müsse, und zwar bis zur Vernichtung des Gegners, hält keiner Prüfung stand, weder der Fakten noch der Logik.
Es ist wichtig, dass uns das klar wird. Nicht, um Amerika zu rechtfertigen. Amerika kratzt das sowieso kein bisschen. Wichtig ist es, damit wir die Fehler der Vergangenheit nicht wiederholen. Wenn nämlich die Massen meinen, Amerika habe die UdSSR zugrunde gerichtet, dann wird die Gesellschaft nicht in der Lage sein, die wirklichen Gründe dafür zu verstehen, wie diese Großmacht tatsächlich in den völligen Niedergang glitt. Und diese Massen sind leicht zu manipulieren. Wenn wir uns die Köpfe nicht mit lauter Quatsch vollstopfen, werden wir bald verstehen, wie viele Probleme es in der sowjetischen Politik und Wirtschaft gegeben hat. Und genau sie waren es, die die UdSSR in den Untergang getrieben haben.