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Margarita Simonjan

Ihre steile Karriere begann mit einer Lüge im staatlichen Auftrag. Heute kokettiert die Chefin des Propaganda-Senders RT und der staatlichen Medienholding Rossija Sewodnja offen mit ihrer Rolle als Gesicht der russischen Desinformation. Der Kreml belohnt sie großzügig dafür. 

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Konstantin Ernst

„Das Fernsehen ist jener Ort, an dem ich mehrere Leben gleichzeitig leben kann“ – diese Worte wiederholt der Generaldirektor des Perwy Kanal in Interviews gerne. Ob vor oder hinter der Kamera, ob als Regisseur, Drehbuchautor oder Produzent zahlreicher Filme und Serien – der Name Konstantin Ernst taucht in fast allen zeitgenössischen medialen Produktionen auf. Ohne Zweifel ist Ernst eine der mächtigsten und einflussreichsten Persönlichkeiten der russischen Medienwelt. Seit Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine steht er für „die Mitwirkung bei der Verbreitung von anti-ukrainischer Propaganda“ unter internationalen Sanktionen. Wie kaum ein anderer ist Ernst in der Lage, Stimmungen zu erfassen und weiterzugeben. Konstantin Ernst ist jedoch kein plumper Propagandist, sondern in erster Linie ein geschickter Medienmanager und kreativer Kopf, der das russische Staatsfernsehen reformiert und modernisiert hat.

Konstantin Ernst ist eine der mächtigsten und einflussreichsten Persönlichkeiten in der russischen Medienwelt / Foto © Mikhail Metzel/ITAR-TASS/imago-images

Anfänge und schneller Aufstieg 

Seine Karriere beim Fernsehen begann in einer Zeit des Umbruchs und Neubeginns: 1988 fing Ernst beim damaligen Sender ORT an. Mit Ende 20 wurde er Regisseur, Drehbuchautor und Moderator bei Wsgljad (dt. Blick) – einem der bekanntesten Programme der Perestroika-Zeit. Ab 1991 produzierte und moderierte er fünf Jahre lang seine eigene Sendung Matador im Nachtprogramm des Senders, die beim Publikum sehr beliebt war. In essayartigen Sendungen widmete sich Ernst dort vor allem seiner großen Leidenschaft, der Kino- und Filmindustrie. Er träumte davon, einmal selbst zum Kino zu gehen, doch dann kam alles anders: Im März 1995 erschossen Unbekannte den ORT-Direktor Wladislaw Listjew. Konstantin Ernst wurde sein Nachfolger. 

Modernisierer des Perwy Kanal

In seiner neuen Position reformierte Ernst ORT und trug damit wesentlich zum Erfolg des Senders bei, der 2002 in Perwy Kanal umbenannt wurde. Sein Ziel war es, dem staatlichen Fernsehen wieder zu hohen Einschaltquoten zu verhelfen und Stabilität zu schaffen, was ihm unter anderem durch die vermehrte Aufnahme von Spielfilmen ins Programm sowie neue Produktionen gelang. So verantwortete er beispielsweise Russki Projekt (dt. Das Russische Projekt) – die erste sogenannte soziale Werbekampagne der russischen Regierung nach dem Ende der Sowjetunion. Mit einfachen, aber eindringlichen Bildern sollten die anderthalb bis zweiminütigen Clips die Bevölkerung an wichtige gesellschaftliche Werte erinnern. Häufig endeten sie mit einem moralisierenden Appell: „Denk an deine Liebsten“, „Glaube an dich selbst“ oder „Setzen Sie sich realistische Ziele“.1

Ernst verstand, dass er das Publikum auf einer emotionalen Ebene erreichen muss, wenn er moralische Botschaften übermitteln will. Er entwickelte Unterhaltungsprogramme wie Proshektor Paris Hilton (dt. Paris Hilton im Rampenlicht), die Erfolgstalkshow Pust goworjat (dt. Lasst sie reden) oder die mehrteiligen Musikfilme Staryje pesni o glawnom (dt. Alte Lieder über das Wesentliche). Das Fernsehen ist außerdem jener Ort, an dem Ernst seiner großen Leidenschaft für die Filmkunst nachgehen kann. So produzierte er zahlreiche erfolgreiche Filme und Serien der letzten zwei Jahrzehnte. Dazu gehören etwa die Filme Notschnoi dosor (dt. Wächter der Nacht, 2004) und Dnewnoi dosor (dt. Wächter des Tages, 2005), die Fortsetzung des beliebten Klassikers Ironija sudby (2007) (dt. Ironie des Schicksals), ein Biopic über den Sänger Wladimir Wyssozki (2011) und der Historienfilm Wiking (2016) über Fürst Wladimir I. 

Mediale Megaevents für das Putin-Regime 

Seit 1999 hat Ernst nicht nur den Posten des Generaldirektors des Perwy Kanal inne, sondern er ist auch Hauptproduzent medialer Großereignisse, wie zum Beispiel des Eurovision Song Contests 2009 in Moskau, der Eröffnungs- und Schlusszeremonie der Olympischen Winterspiele 2014 in Sotschi, sowie der Fußballweltmeisterschaft 2018. Ernst war es auch, der die jährliche Call-in-Show Prjamaja linija s Wladimirom Putinym (dt. Direkter Draht mit Wladimir Putin) ins Leben gerufen hat. Jedes Jahr am 9. Mai produziert er die Übertragung der Siegesparade in Moskau. Der begeisterte Cineast weiß seine Leidenschaft für Hollywood-Filme in diese monotonen Ereignisse einfließen zu lassen und sie in mediale Spektakel zu verwandeln: So ließ er unter anderem Kameras in den Cockpits von Kampfflugzeugen installieren, um dem Publikum Aufnahmen wie im amerikanischen Action-Drama Top Gun zu liefern. 

Nicht zuletzt aufgrund der Produktion medialer Megaevents gilt Ernst als „Kreativdirektor“ des Kreml und hauptverantwortlicher Gestalter des visuell-medialen Stils des Putin-Regimes. Der Kreml hat ihn dafür mit Auszeichnungen überhäuft: Er erhielt zahlreiche Urkunden, Medaillen und Orden. So verlieh Putin ihm unter anderem 2021 den höchsten Grad des Ordens für Verdienste um das Vaterland. Ernst ist außerdem mehrfacher Gewinner des wichtigsten russischen Fernsehpreises Tefi, Mitglied zahlloser Verbände und Akademien sowie Teil des Kuratoriums des Fond Kino, der wichtigsten Finanzierungseinrichtung der russischen Regierung für die russische Filmproduktionsindustrie.

Vom Wissenschaftler zum Fernsehmogul 

Eine Karriere in Film und Fernsehen schien dem 1961 in Moskau geborenen Konstantin Ernst zunächst nicht in die Wiege gelegt. Wie sein Vater Lew Ernst sollte er Wissenschaftler werden. Dieser war ein bekannter Biologe, Vize-Präsident der Sowjetischen Akademie für Landwirtschaftswissenschaften und Begründer der sowjetischen Schule für Genetik. Lew Ernst war somit der erste Wissenschaftler in einer Familie, die vorwiegend bei der Eisenbahn gearbeitet hatte – Konstantin Ernsts deutscher Ur-Ur-Großvater Leo Ernst kam im 19. Jahrhundert zum Bau der Eisenbahn ins Russische Kaiserreich, heiratete und blieb.

Konstantin Ernst studierte Biologie und erhielt nach Abschluss des Doktorats im Bereich der Genetik 1986 ein prestigeträchtiges Angebot für ein zweijähriges Praktikum an der Universität Cambridge. Aber er lehnte ab und machte sich stattdessen an die Arbeit an seinem ersten Film. Zunächst produzierte er einen Videoclip für das Lied Aerobika der Rockgruppe Alisa, danach folgte der avantgardistische Dokumentarfilm Homo duplex sowie die Verfilmung eines Konzerts des populären Rock-Barden Boris Grebenschtschikow in Leningrad. Durch diese Arbeit wurde der damalige Moderator von Wsgljad, Jewgeni Dodolew, auf Ernst aufmerksam. Dodolew engagierte ihn als Regisseur und Produzenten – es war der Startschuss für Ernsts Höhenflug beim Fernsehen. 

Ein Mensch der Gegensätze 

Bereits an seinen Debüt-Arbeiten und seinem beruflichen Werdegang zeigt sich, dass Ernst ein Mensch der Gegensätze ist: Er wurde im analytisch-strukturierten Denken ausgebildet, aber seine Leidenschaft gilt der Filmkunst. 2021 wurde bekannt, dass ein Unternehmen, das mit Ernst in Verbindung gebracht wird, zahlreiche Kinotheater aus der Sowjetzeit in Moskau abreißen ließ. An ihrer Stelle wurden Einkaufszentren errichtet – der große Freund des Kinos ist somit zugleich sein Zerstörer.2 Der Perwy Kanal ist Ernsts Erfolgsprojekt; gleichzeitig ist er mitverantwortlich für dessen hohe Verschuldung.3 Auch unter seinen Mitarbeitern ist er umstritten. So hat beispielsweise eines der bekanntesten Gesichter des Perwy Kanal, Andrej Malachow, den Sender aufgrund von Konflikten mit Ernst verlassen.

Seine Ausbildung und gesellschaftliche Stellung machen Ernst zu einem Vertreter der Intelligenzija. Er ist jedoch auch Hauptverantwortlicher für aggressiv-propagandistische Talkshowformate wie Wremja pokashet (dt. Die Zeit wird es zeigen). Derartige Programme zeugen von seinem Wunsch, die Menschen emotional zu lenken, sowie von seiner Sicht auf die Rolle des Fernsehens in der Gesellschaft: Wie er bereits 2004 anlässlich des Geiseldramas in Beslan und der spärlichen Berichterstattung darüber im Perwy Kanal gegenüber der Financial Times erklärte, ist es in seinen Augen die wichtigste Aufgabe des Fernsehens, das Land zu mobilisieren; erst an zweiter Stelle komme die Aufgabe, die Menschen zu informieren.4 

Meister der Inszenierung

In seiner Rolle als Generaldirektor eines der wichtigsten Fernsehsender Russlands sowie als Produzent zahlreicher Filme agiert Ernst im Spannungsfeld von Einschaltquoten, Vorgaben aus dem Kreml und eigenen künstlerischen Ambitionen. Tatsächlich wurde unter Ernsts Anhängern spekuliert, dass dieser für die Möglichkeit, mediale Großprojekte realisieren zu können, die Propaganda für den Kreml in Kauf nehme.5 Ernst definiert sich allerdings selbst als Vertreter eines starken Staates (gosudarstwennik) und kann daher als loyaler Anhänger des Putin-Regimes bezeichnet werden. So erklärte er einmal in einem Gespräch mit einem Journalisten des New Yorker, dass es seltsam wäre, wenn ein staatlicher Sender eine regierungsfeindliche Haltung einnehmen würde.6 Trotzdem bewahrte Ernst stets den künstlerischen Anspruch an sein Programm. Über lange Zeit hatte der Perwy Kanal bei der Propaganda nie ein gewisses Niveau unterschritten. Angesichts der Geschmacklosigkeiten in Wremja pokashet hat jedoch auch diesen Sender die politische Realität inzwischen eingeholt.
Ernsts Aufmerksamkeit gilt heute umso mehr den Unterhaltungsprogrammen, da hier der kreative Spielraum noch am größten ist. Diese Projekte zeigen Ernsts persönlichen Ehrgeiz, sich technisch mit Hollywood zu messen und die amerikanische Filmfabrik zu übertreffen, denn inhaltlich habe diese in den letzten 15 Jahren „nur Mist“ hervorgebracht, wie er bei einem öffentlichen Auftritt abschätzend erklärte.7

Die von Ernst produzierten Fernsehserien und Spielfilme, die oft Rekordsummen verschlingen, transportieren vor allem eines – die russische Staatsideologie. So fällt beispielsweise in der Serie Trotzki (2017) die historische Genauigkeit der Symbolik zum Opfer: Trotzki wird als Marionette ausländischer Kräfte dargestellt, Revolutionen werden als etwas Fatales präsentiert. Auch das Drama Wysow (dt. Die Herausforderung) aus dem Jahr 2023 hat in erster Linie politische Bedeutung: Der angeblich im Weltraum gedrehte Film soll den „erneuten“ Sieg über Amerika beim Wettlauf ins All demonstrieren. Die politische Dimension zeigt sich auch darin, dass Konstantin Ernst sowie die Schauspielerin Julia Peresild dafür prompt eine Auszeichnung erhielten – und zwar von Wladimir Putin persönlich. Zufrieden zurücklehnen wird sich Ernst deshalb bestimmt nicht. Er greift weiter nach den Sternen und kündigt an: Eine Fortsetzung des Blockbusters solle „auf dem Mond“ gedreht werden.8


1.In einem dieser Videos schenkt eine Frau, deren Mann sie nach einem Streit auf der dunklen Straße ausgesetzt hat, einem jungen Liebespaar ihren Hut. Als sie in die Nacht hineinwandert, erscheint die Überschrift: „Passen Sie auf die Liebe auf“. 
2.meduza.io: Kompanija, svjazannaja s Konstantinom Ėrnstom, snosit 39 sovetskich kinoteatrov v Moskve. Oni pravda ne nužny gorodu i ne imejut nikakoj cennosti? Otvečaet istorik architektury 
3.meduza.io: Očen' plochie biznesmeny: Kak internet, propaganda i ambicii Konstantina Ėrnsta sdelali gluboko ubytočnym Pervyj kanal — i čto s nim teper' budet 
4.newyorker.com: The Kremlin’s Creative Director 
5.TV Rain/YouTube: Z-padenie Ėrnsta, Presnjakova, Gagarinoj. Kak znamenitosti okazalis' za vojnu? 
6.newyorker.com: The Kremlin’s Creative Director 
7.lenta.ru: Ėrnst nazval kino Gollivuda der'mom i sravnil so studiej Gor'kogo 72-go goda 
8.news.ru: Ėrnst zajavil o gotovnosti snjat' fil'm na Lune 

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