Dreieinhalb Jahre Haft lautete das Urteil. Alexej Gaskarow ist einer von mehr als 30 Menschen, die nach einer Demonstration auf dem Bolotnaja-Platz vom 6. Mai 2012 in umstrittenen Prozessen vor Gericht gestellt wurden. Der Protestzug war durchs Moskauer Stadtzentrum zum Bolotnaja-Platz gezogen, dann kam es zu gewaltsamen Zusammenstößen zwischen Polizisten und Demonstranten, gefolgt von einer Verhaftungswelle.
Nur einen Tag danach trat Präsident Putin seine neue Amtszeit an. Seitdem hat sich in Russland viel verändert. Gaskarow, linker Aktivist, jetzt 31 Jahre alt, saß die meiste Zeit davon hinter Gittern. Nun wurde er entlassen – und zum gefragten Gesprächspartner. Wie hier im Interview der Journalistin Olessja Gerassimenko für snob. In dem Gespräch, das sie per Du führt, fragt sie nach seiner persönlichen Geschichte dahinter: Wie blickt er auf die Ereignisse von damals? Wie war der Lageralltag? Und wie nimmt er die Veränderungen im Land wahr?
War der Prozess gegen dich fair?
Insgesamt bereue ich, dass wir der Teilnahme am Prozess zugestimmt haben. Wir hätten, wie die politischen Gefangenen der Sowjetunion, mit dem Rücken zu ihnen stehen und schweigen sollen. Und es nicht als Versuch betrachten, die Wahrheit ans Licht zu bringen. Aus der Zeit in Chimki war ich noch voller Illusionen, und auf mehreren Videos war klar zu sehen: Die Sequenzen, in denen ich vorkam, lagen vor dem Zeitpunkt, als den Ermittlern zufolge die [Bolotnaja- dek.] Unruhen begannen. Ich dachte, das ist ganz einfach, ich zeige ihnen die Videos, und alles ist in Ordnung.
Im Endeffekt zählte ich Beweise auf, die Richterin nickte, aber es folgte keinerlei Reaktion. Überhaupt sah das ganze Verfahren so aus: Die Entscheidung ist schon gefallen, das Urteil geschrieben, lasst uns das hier alles möglichst schnell hinter uns bringen.
Du hast einen Polizisten geschubst und einen Soldaten aus der Absperrung gezerrt?
Das habe ich ja nie geleugnet. Übrigens ist nach der Kundgebung am Bolotnaja-Platz erstmal ein Jahr vergangen, ich arbeitete gerade an einem wichtigen Projekt, hatte nur noch eine Woche Zeit, und es war uncool, verknackt zu werden. Auch an diesem Sonntag, an dem die Bullen mich abholen kamen, musste ich zur Arbeit. Ich bin zum Laden rausgegangen, um Katzenfutter zu kaufen, und da steht diese ganze Clownsmannschaft vor dem Haus – zwei Jeeps, ein Kleinbus. Da stiegen dann so junge Typen aus, gestylt wie rechte Skinheads, ich dachte, das ist die BORN und überlegte, was ich jetzt mache, da zückten sie schon ihre Dienstmarken.
Warst du in diesem Moment erleichtert?
Nein, im Gegenteil. Vor der BORN hätte man davonrennen oder sonst was machen können. Jedenfalls haben die mich festgenommen und mir lange nicht gesagt, weshalb. Mit dem Gesicht nach unten im Bus und so, dieser Stil. Ich konnte mir schon ein paar Gründe ausmalen, weshalb – wir haben damals die Wohnheime der Firma Mosschelk und den Zagowski-Wald verteidigt, kurz vor der Festnahme haben Leute, die jetzt im Bataillon Asow kämpfen, versucht, meine Frau und mich zu überfallen. Mit denen hab ich mich angelegt – und das wurde gefilmt.
Also, es gab so einiges. An die Bolotnaja-Sache hatte ich überhaupt nicht gedacht. Und als sie mir dann sagten, dass ich angeklagt würde, sah ich mir das an – das war der reinste Stuss – und sagte, ok, ich werde alles gestehen: Wir liefen in der Menschenmenge, ein OMON-Mann griff dann einen Kerl an, es entstand ein Gerangel, man versuchte, sie auseinanderzubringen, und da hieß es, ich hätte einen Polizisten am Bein gezogen.
Als Beweise dienten ein Video schlechter Qualität und ein Gutachten mit dem Ergebnis, dass ich das nicht war. Aber ich wusste ja, dass ich das war, und sagte gleich: Leute, jetzt mal ein bisschen vernünftig. Aber ihnen war egal, ob ich da was gestehe oder nicht. Hätte ich einen 212-er gestanden oder gegen jemanden ausgesagt, das wäre wohl was anderes gewesen ...
“Ich versammelte ein Auditorium von etwa fünfzig Zuhörern und schlug der Leitung vor, so etwas wie Seminare zu veranstalten.”
Wollten sie das von dir?
Nix da. Wieso hätten sie mich auch nach der Organisation von Unruhen fragen sollen, wenn sie doch selber wissen, unter anderem aus eigenen Abhöraktivitäten, dass da niemand irgendwas geplant hat. Sie haben sich strikt auf die Sache mit dem Bein beschränkt. Später fanden sie noch etwas, was ich schon ganz vergessen hatte. Vor der Absperrung war ein Gedränge entstanden, manche fielen hin, und ich habe einen an der Schulter gezerrt, um Platz zu schaffen. In der Anklageschrift stand, ich hätte auf diese Weise die Absperrkette durchtrennt, damit alle durchkommen und die Massenunruhen losgehen können. Dabei war diese Absperrung auf der anderen Seite.
Erzähl von der Haft. Das wollen alle hören. Sowas wie Aufstehen um 6, Nachtruhe um 10.
Mhm. Natürlich leben die Drogensüchtigen, die da auf Entzug sind, vor allem nachts. Wenn Schlafenszeit ist, fangen die einen an zu rauchen, die anderen kochen Tschifir. Das blendet man einfach aus, man hat einen geregelten Tagesablauf, und das ist im Prinzip gesund. Am Sport hindert dich niemand: Es gibt ein Reck, einen Barren, ein paar Gewichte. Hier in Freiheit hat man immer Arbeit oder irgendwas zu tun, aber dort war ich so durchtrainiert wie nie. Hauptsache, man sucht sich immer eine Beschäftigung, damit man bloß keine Freizeit hat.
Mit wem hast du gesessen?
Die Hälfte der Zeit war ich in Untersuchungshaft, mit ganz verschiedenen Leuten. Typen mit Paragraph 228 mit krassen Geschichten, etwa wie Teenagern Haschisch aus Holland mit der Post geschickt wurde, und die kriegen 15 Jahre dafür. Von meinem eigenen Fall zu erzählen, war mir sogar peinlich – allen um mich herum blühten mehr als 10 Jahre. Als die Verhandlung begann, saßen wir in der Butyrka, dort waren Diebe, irgendwelche Psychos, Jugendliche, Straßenkinder, Dagestaner. Leute von Rosoboronexport, vom Asien-Pazifik-Forum und von der Olympiade, gegen die ermittelt wurde, hab ich auch kennengelernt, mit Jemeljanenko hab ich trainiert.
Im Straflager lebten im allgemeinen Vollzug 300 Männer, davon waren 80 Prozent Einheimische aus Tula, die im Suff irgendwen angefallen, Datschen ausgeraubt und kleinere Überfälle begangen haben. Aber was ist das Geile am Lager? An ein und demselben Ort sitzt sowohl der Obdachlose, der in einer fremden Datscha überwintert, deswegen eingesperrt wird und hier sogar besser lebt als in Freiheit, als auch der Unternehmer, der einen Milliardenschaden angerichtet hat und gerade noch draußen auf seiner Yacht umhergeschippert ist.
Als du rauskamst, hast du gesagt, das Wichtigste war, mit der Realität in Verbindung und gesund zu bleiben. Wie bleibt man dort gesund? Ist das Essen ok?
Da ich von draußen gut unterstützt wurde, war ich fast nie in der Kantine. Ich hatte dort eine Mikrowelle. Die Strafvollzugsbehörde hat jetzt so einen Ansatz, dass sie einen nicht daran hindern, sich das Leben angenehmer zu machen. Die müssen da irgendeine Strategie zur Verbesserung der Haftbedingungen erfüllen, das Budget wird aber immer gekürzt. Wenn man ankommt, ist alles übelst, es tropft von der Decke, überall Schimmel. Aber sie haben nichts dagegen, wenn du das selber angehst. Du erklärst das zur humanitären Hilfe, und bekommst Teekocher und Mikrowelle, sogar ein Beamer hing bei uns, mit dem wir Filme guckten.
Soweit ich weiß, wolltest du dort eine Weiterbildung machen.
Leider musste ich feststellen, dass an der Universität, die mit dem Straflager kooperiert, unter dem Deckmantel der Bildung einfach ein Verkauf von Diplomen stattfindet. Ich hab dort etwas anderes gemacht: Bei meiner Arbeit habe ich oft alle möglichen Grundlagen von Unternehmertum und Planung gelehrt, und mit mir saßen Leute im Knast, mit denen man interessante Gespräche führen konnte – Bankchefs, Leute aus Ministerien.
Es gab da eine Abendschule, die nötigen Räumlichkeiten. Ich versammelte ein Auditorium von etwa fünfzig Zuhörern und schlug der Leitung vor, so etwas wie Seminare zu veranstalten. Jeder soll sich ein Projekt ausdenken, und wir planen es innerhalb von 8 Monaten (da sollte ich entlassen werden) konkret durch, am Ende kommt ein Business-Plan heraus. Zuerst haben sie das kategorisch abgelehnt, von wegen, du sitzt doch wegen der Bolotnaja-Sache und willst da bestimmt nur politische Diskussionen führen. Doch dann kam ein neuer Chef, und der ist uns entgegengekommen. Das war wie ein Stück Freiheit.
Als ihr nacheinander verhaftet wurdet, sagten alle, das wird der Prozess des Jahrhunderts, alle werden sich wegen euch, für euch zusammenschließen, und im Endeffekt – du bist schon draußen, und der Bolotnaja-Prozess, obwohl er noch gar nicht ganz zu Ende ist, interessiert keinen mehr. Hast du nicht umsonst gesessen?
Na ja, was heißt umsonst. Ich hatte ja keine Wahl. Was Bolotnaja betrifft ... Die Entscheidung, bei dieser ganzen Bewegung mitzumachen, war bereits mit Risiken verbunden. Wenn man das mit der Ukraine vergleicht, obwohl das bei vielen nicht gern gesehen ist: Wären die Ereignisse auf dem Bolotnaja-Platz weitergegangen, glaube ich nicht, dass die Leute vor Erschießungen Halt gemacht hätten.
In Kiew sind ein Haufen Leute umgekommen, und wir hier sollen uns von irgendwelchen Haftstrafen abschrecken lassen. Die haben willkürlich ein paar Personen herausgegriffen und eingesperrt, die Logik ist klar: Wer auch immer du bist, wenn du dich gegen den Zaren stellst, wirst du leiden. Was kann die Antwort darauf sein? Wir müssen den Mythos der Wirksamkeit solcher Repressionen entlarven.
Aber das stimmte ja. Es sind wirklich alle vor einem Hieb mit dem Schlagstock zurückgeschreckt, vom Gefängnis ganz zu schweigen. Viele Oppositionelle sagen, der Kampf gegen diese Regierung sei keinen Zentimeter persönlichen Wohlbefindens wert. Du bist praktisch der einzige, der nicht so denkt. Fühlst du dich einsam?
Die meisten Leute waren noch nie im Gefängnis, und sie glauben wirklich, das sei das Ende: Ich komme ins Lager – und das war’s. Ich hab das alles einfach relativ normal erlebt. Aber ich überlege mir das so: Wenn die Staatsmacht Andersdenkende mit Repressionen unterdrückt, schrauben die Menschen ihre Aktivität zurück, und ihr Bedürfnis, sich für irgendetwas einzusetzen, schwindet, und so gerät das System eher aus den Fugen, als dass es stabiler würde, wie sich die Regierung das vorstellt. Das Land wird weniger konkurrenzfähig.
Aber die Leute müssen wenigstens minimale Aktivität beibehalten. Es ist schlimm, dass so viele den passiven Weg einschlagen. Bei den Ressourcen, die da sind, könnten wir es besser haben, aber viele sind auch so zufrieden. Dadurch kann sich das System lange halten. Man muss nicht die direkte Konfrontation suchen. Das dachte ich auch schon auf dem Bolotnaja-Platz, wir wollten eigentlich schon weggehen, weil wir begriffen hatten, dass diese ganzen Sitzstreiks und dergleichen ja genau das sind, was die Regierung braucht. Es gibt auch andere Wege, man muss sich ja nicht auf Demonstrationen und Kundgebungen beschränken.
“Im Gefängnis wurde mir klar, wie stark der Einfluss der Machthaber auf die Gehirne der Menschen ist.”
Meinst du jetzt die Philosophie der kleinen Dinge?
Unter anderem. Ich habe zum Beispiel gelesen, dass viele, die am Bolotnaja-Platz aktiv waren, jetzt ehrenamtlich tätig sind. Und das ist ja wirklich nicht so schlecht. Hauptsache, die Energie bleibt erhalten. Oder was anderes: Der Kampf gegen Korruption, all diese Publikationen wirken sich auf das System aus, da kann man sagen was man will. Es gibt auch Leute in der linken Szene, die finden, es muss eine progressive Besteuerung geben, die können ja ihre Argumente vorbringen. Oder man gründet angesichts all dieser Konflikte irgendeine Friedensbewegung.
Im Gefängnis wurde mir klar, wie stark der Einfluss der Machthaber auf die Gehirne der Menschen ist. Dort kommen Leute zusammen, die keinen großen Hang zum Reden haben. Richtige Bauern. Alle nur erdenklichen Mythen haben sie im Kopf. Aber wenn du mit ihnen beisammen bist, brauchst du nicht mal groß zu streiten – einfach durch Gespräche und durch den Kontakt haben sich sogar die ärgsten Sturköpfe verändert. Insofern ist jede Arbeit, die die Verbreitung von Informationen und eine wenigstens minimale Aufklärung zum Ziel hat, wichtig.
Und wovon hast du sie überzeugt?
Von allem möglichen. Unter anderem was generell ihre Einstellung zur Opposition betrifft. Am Anfang war es sogar ganz angenehm für mich, von wegen, ach, auf dem Bolotnaja-Platz, das waren sowieso alles nur Junkies, die für Heroin auf die Straße gegangen sind – da haben sie mich in Ruhe gelassen. Aber mit der Zeit sehen die Leute ja, was du liest, welche Filme du auf dem Kultursender guckst, dass du beim Verfassen eines Berufungsantrags helfen kannst, ... und sie merken, dass du kein Idiot bist, der für eine Dosis Heroin demonstrieren gehen würde. Es gab viele Konflikte über die Vorgänge in der Ukraine, vor allem weil viele einsaßen, die schon im Donezbecken gekämpft hatten, zurückkamen und verhaftet wurden.
Weswegen?
Rowdytum, Diebstahl, Plünderung, so typische Soldiers of Fortune. Und sogar über diese äußerst komplexe Frage ist es uns gelungen zu reden, die Wogen zu glätten.
Du bist in einem Land ins Gefängnis gekommen und in einem anderen wieder raus. Wie war es, über Nachrichten zu erfahren, dass draußen historische Ereignisse passieren? Tat es dir leid, dass du sie nur aus der Distanz sahst? Oder war das eher beruhigend?
Ehrlich gesagt, zweiteres. Ich hatte oft Schwierigkeiten, mich zu positionieren. Als zum Beispiel massenweise Flüchtlinge aus der Ukraine zu uns kamen, kamen auch welche und arbeiteten hier im Lager. Man beginnt mit ihnen zu reden und versteht, da gibt es eine Ideologie, aber es gibt auch die Geschichten der Menschen, und sich festzulegen war schwierig. Ich hab mir echt gedacht, wie gut, dass das für mich nur im Hintergrund läuft.
Wie sieht es mit deiner Arbeit aus? Was willst du machen?
An oberster Stelle stehen jetzt materielle Probleme. Viele fragen mich, ob ich in die Politik gehen werde, die haben alle so hohe Erwartungen, aber was ist das schon für eine Politik heute. Ohne eigene Mittel ist es unmöglich, politisch aktiv zu sein. Natürlich sage ich, dass man sich vor dem Knast nicht zu fürchten braucht, aber trotzdem ist das ein ernstzunehmender Verlust – dreieinhalb Jahre. Eine Menge nicht realisierter Möglichkeiten und angehäufter Probleme.