„Vier gingen in den Wald, und nur zwei kamen heraus“ – so heißt die investigative Recherche von Meduza, die das Exilmedium am Abend des 21. Februar veröffentlicht hat. Noch nie wurde das liberale Medium so scharf aus der liberalen Ecke Russlands kritisiert, wie nach dem Erscheinen dieses Artikels.
In der Untersuchung liefert Meduza Hinweise darauf, dass einige der am 10. Februar im sogenannten Fall Set (dt. Netzwerk) verurteilten Männer 2017 einen zweifachen Mord begangen haben.
Der Fall der angeblichen Terrororganisation Set rief in Russland eine Welle der Kritik hervor: Die zu sechs- bis 18-jährigen Haftstrafen Verurteilten haben ihre „Geständnisse“ nachweislich unter Folter abgelegt, die Menschenrechtsorganisation Memorial listet sie als politische Gefangene, tausende Menschen protestieren seit Wochen und fordern auch mit ihren Unterschriften die Freilassung.
Und nun sollen zwei der verurteilten Männer Mörder sein? Zumindest behaupten das die Quellen von Meduza. Diese geben außerdem an, dass es in der Stadt Pensa eine linke und anarchistische Gruppierung namens 5.11 gegeben hat. Und dass manche von den Verurteilten dieser Gruppierung angehörten und mit Drogen gehandelt hätten.
Meduzas Material wirkt auf viele roh und unaufbereitet. Der Artikel fußt streckenweise auf nicht nachprüfbaren Aussagen von Informanten; einige der Beobachter kritisieren auch, dass Meduza nur belastende Hinweise bringt und keine möglichen Hinweise auf Entlastung liefert.
Darf ein unabhängiges Medium in die Hände der Folterjustiz spielen und zum Helfershelfer des FSB werden? Oder muss es zwecks eines höheren Ziels Hinweise vorenthalten? Darf es nur Fakten liefern, und nichts anderes als Fakten? dekoder steckt die Eckpunkte einer hitzigen Diskussion ab.
Meduza: Schwieriger Balanceakt
Meduza hat sich schon im Vorfeld der Veröffentlichung zu den Mordverdächtigungen in einem Dilemma gewähnt und brachte parallel zu der Publikation eine Stellungnahme:
Original, veröffentlicht am 21.02.2020
MBCh-Media: Friendly Fire
Die Menschenrechtlerin und Journalistin Soja Swetowa geht auf MBCh-Media hart ins Gericht mit der Meduza-Veröffentlichung:
Die schwache Beweislage in dem Artikel überzeugt nicht von einer Zweckdienlichkeit der veröffentlichten Informationen – sie lassen Zweifel aufkommen an ihrer Glaubwürdigkeit und sind gesellschaftlich nicht dermaßen bedeutend, als dass für ihre Veröffentlichung derartige Eile geboten gewesen wäre.
Im Grunde spielt die Publikation den „Fabrikanten“ des Falles über eine nichtexistente terroristische Organisation in die Hände.
Das kann noch weit schlimmere Folgen haben: Die Ermittlung wegen zweifachen Mords im Wald von Rjasan wird aufgerollt und den in Pensa schon wegen Terrorismus Verurteilten angedichtet.
Ich kann mir nur schwer vorstellen, dass für die Gerechtigkeit und Freiheit von Menschen, die des Mordes beschuldigt werden, diejenigen kämpfen werden, die bereit waren, sie zu verteidigen, als aus ihnen unter Folter Angaben über die Beteiligung an einer nichtexistenten terroristischen Organisation herausgeprügelt wurden.
А по сути, публикация играет на руку «фабрикантам» дела о несуществующей террористической организации.
Она может привести и к еще худшим последствиям: следствие по делу о двойном убийстве в рязанском лесу возобновят и сфальсифицируют причастность к нему тех, кого уже осудили в Пензе по терроризму.
Мне трудно представить, что за справедливость и свободу людей, обвиненных в убийстве, будут бороться те, кто был готов защищать их, когда у них под пытками выбивали показания об участии в несуществующей террористической организации.
Original, veröffentlicht am 22.02.2020
Facebook/Kirill Martynow: Aktivismus vs. Journalismus?
Für Kirill Martynow, Politikredakteur von der Novaya Gazeta, ist die Sache nicht ganz so klar: Meduza habe zwar Fehler gemacht, die Kritiker würden aber die Grenzen zwischen Aktivismus und Journalismus verkennen:
Erstens ruft es nicht den geringsten Unmut hervor, wenn die russische Strafverfolgung einen Mordfall nicht untersucht, niemand weist darauf hin. Die Handlungsunfähigkeit des Systems wird als Norm angesehen.
Zweitens liest sich der Meduza-Artikel entweder wie eine Bekräftigung der FSB-Version (und Propaganda), dass nämlich die im Fall Set Beschuldigten ihre Haftstrafen verdient hätten, oder wie die Diskreditierung der öffentlichen Kampagne zu ihrer Verteidigung. Tatsächlich ist weder das eine noch das andere der Fall. Wenn Menschen unter Folter wegen Terrorismus verurteilt werden, die aber tatsächlich laut den Quellen von Meduza einen Mord begangen haben, dann sollten sie zunächst vom Terrorismus freigesprochen und erst danach der Mordfall aufgerollt werden – falls denn die Beschuldigungen offiziell erhoben werden. Übrigens: Mörder haben in Russland, anders als Terroristen, ein Recht auf ein Geschworenengericht, was den Geheimdiensten solche Prozesse enorm erschwert.
Im Bewusstsein der Menschen ist nun endgültig die Grenze zwischen Aktivismus und Journalismus aufgehoben: Sie denken, dass Journalisten bei öffentlichen Kampagnen zum Schutz von Verurteilten eindeutig mitmachen oder zumindest schweigen müssen. Das ist natürlich nicht richtig: Wenn sie gesellschaftsrelevante Informationen haben, dann veröffentlichen sie diese – denn das ist ihr Job. Die Aufgabe der Gesellschaft ist es dann, das Gesagte zu interpretieren und daraus Schlüsse ziehen. Die Logik der Medien kann man nicht mit der Logik der Menschenrechtsarbeit gleichsetzen – das sind schlicht unterschiedliche Gebiete.
Zu der Veröffentlichung von Meduza gibt es auch Fragen. Die Zeit der Veröffentlichung ist seltsam – Freitagabend, am Tag vor langen Feiertagen. Jenseits jeder Verschwörung kann man das damit erklären, dass die Redaktion befürchtet hat, dass irgendjemand sonst die Informationen hatte und den Journalisten damit zuvorkomme. Alles um den Fall Set ist mit Provokateuren infiltriert, nach Durchlesen des Textes habe auch ich das Gefühl, dass die Meduza-Journalisten Opfer solcher Provokateure wurden – die Eile mit der Veröffentlichung ist nur ein weiterer Hinweis darauf. Um das Mißtrauen zu zerstreuen, hätte Meduza einen Disclaimer darüber veröffentlichen sollen, wie genau diese Investigation gemacht wurde. Das wurde nicht getan, und das ist der größte Schwachpunkt dieser journalistischen Arbeit.
Noch ein Mal: Im Fall der „terroristischen Organisation“ Set gibt es keine Beweise. Dafür gibt es Folter. Die Urteile in diesem Fall müssen aufgehoben werden.
Во-первых, история о том, что российская правоохранительная система не расследует убийства, не вызывает ни малейшего возмущения, ее никто вообще не замечает. Недееспособность этой системы воспринимается как норма.
Во-вторых, публикация «Медузы» воспринимается либо как подтверждение версии ФСБ (и пропаганды) о том, что обвиняемые по делу «Сети» заслуживали сроков, либо как дискредитация общественной кампании по их защите. В действительности, ни того, ни другого не происходит. Если людей под пытками судят за терроризм, а на самом деле по версии источников «Медузы» они совершили убийство, то сначала они должны быть оправданы по делу о терроризме, а потом должно быть разбирательство по убийству - если такие обвинения будут официально предъявлены. К слову, убийцы в отличие от «террористов» имеют в России право на суд присяжных, что сильно усложняет спецслужбам такие процессы.
Наконец, граница между активизмом и журналистикой окончательно стерлась в сознании людей: предполагается, что если идет общественная кампания в защиту осужденных, то журналисты должны в ней явно участвовать или как минимум молчать. Это, конечно, не так, если у вас есть общественно значимая информация, вы ее публикуете, в этом ваша работа, а задача общества - интерпретировать сказанное и делать выводы. Медийная логика не идентична правозащитной, но и не отрицает последнюю – это просто разная работа.
К публикации «Медузы» тоже есть вопросы. Странно выбрано время публикации – пятница вечер накануне длинных праздников. Без конспирологии это может объясняться тем, что в редакции опасались, что информация может быть у кого-то еще, и журналистов опередят. Пространство вокруг «Сети» инфильтровано провокаторами, и после прочтения текста у меня нет ощущения, что журналисты «Медузы» не оказались их жертвами - спешка с публикаций только вносит здесь дополнительные сомнения. Для того, чтобы снять подозрения, «Медузе» стоило бы опубликовать дисклеймер о том, как именно готовилось это расследование. Этого сделано не было, и это самый крупный минус работы журналисты.
И еще раз: в деле о «террористической организации» «Сеть» нет доказательств, но есть пытки, приговоры по этому делу должны быть отменены.
Original, veröffentlicht am 22.02.2020
dekoder-Redaktion