Am 9. Mai wird in Belarus wie in anderen ehemaligen Sowjetrepubliken der Tag des Sieges begangen. Auch in Minsk wird mit einer Parade an das Ende des Großen Vaterländischen Krieges, beziehungsweise des Zweiten Weltkriegs in Europa, und an den Sieg über den Faschismus erinnert. Zu dem Feier- und Gedenktag gehört auch, dass Veteranen am 9. Mai kostenlos Telefonate über den staatlichen Dienstleister Beltelekom führen können. Wie aber hat sich die Erinnerungskultur zum Tag des Sieges in den Jahren seit der Unabhängigkeit der Republik Belarus gewandelt? Wird die junge Generation von den sowjetischen Mythen überhaupt noch erreicht? Ein Bystro von Historiker Alexey Bratochkin in acht Fragen und Antworten.
1. Wie wird der Tag des Sieges aktuell in Belarus begangen und wie hat sich das seit der Unabhängigkeit im Jahr 1991 verändert?
In den Jahren der Unabhängigkeit hat sich der politische Kontext der Erinnerung verändert: Das Erinnern in den Familien, das individuelle Gedenken entfernt sich immer weiter von der offiziellen Version, es ist nuancierter geworden und längst nicht mehr schwarz-weiß, auch wenn die Idee vom Sieg über den Faschismus weitergetragen wird.
Das offizielle Erinnern ist endgültig zu einem Stereotyp geworden, das nicht auf Veränderung ausgerichtet ist. Zum 75. Jahrestag des Kriegsendes im Jahr 2020 lief in allen belarussischen Staatsmedien das Projekt Belarus erinnert sich, dessen Analyse zu verstehen hilft, was diese Erinnerung ausmacht: Betont werden die heroische, idealisierte Selbstaufopferung und die Heldentaten der Soldaten und Partisanen auf der einen, und die Tragödie der zivilen Bevölkerung auf der anderen Seite. Alle anderen Themen werden in keiner Weise kritisch oder realistisch beleuchtet (beispielsweise die Themen Kollaboration, Alltag unter der Besatzung, Holocaust und jüdischer Widerstand oder Kriegsgewalt auf beiden Seiten).
Die Erinnerung an den Krieg steht grundsätzlich nicht mehr im Zentrum des offiziellen Projekts, eine kollektiven Identität zu erschaffen, wie es in den 1990er Jahren und früher der Fall war. Sie bildet lediglich den Hintergrund für die Versuche, den Autoritarismus und seine Praktiken zu legitimieren. Denken wir beispielsweise an die Militärparade in Minsk zum 9. Mai 2020 – auf dem Höhepunkt der Corona-Epidemie, die von der Staatsmacht ja mehr oder weniger ignoriert wurde.
2. Sie nutzen den Begriff Zweiter Weltkrieg. Ist Großer Vaterländischer Krieg nicht mehr gebräuchlich in Belarus?
In Belarus wird zwar immer noch vorwiegend der Begriff „Großer Vaterländischer Krieg“ verwendet, aber er gerät zunehmend in die Kritik und ist Gegenstand von Diskussionen. Der Feiertag wird ja auch mittlerweile zum großen Teil von Menschen begangen, die lange nach Kriegsende geboren sind. Man kann es so sagen: Die Verwendung des Begriffs „Zweiter Weltkrieg“ ist typisch für diejenigen, die sich von der sowjetischen Erinnerungskultur distanzieren wollen oder, wie die jüngere Generation, die Geschichte des Krieges von vornherein außerhalb des sowjetischen Kontextes wahrnehmen, als eine Geschichte, an der viele Länder beteiligt waren.
3. Wie nehmen jüngere Generationen, die die Sowjetunion nicht mehr bewusst erlebt haben, diesen Gedenktag überhaupt wahr?
Die sowjetische Interpretation der Geschichte des Krieges hat sich in den Jahren der Unabhängigkeit gewandelt. Mittlerweile haben wir es mit einem Hybrid aus dem sowjetischen Narrativ und den Versuchen der Staatsideologen zu tun, dieses Narrativ zu nationalisieren. Es wird nicht mehr die sowjetische Identität der Kämpfenden betont, sondern die belarussische. Gleichzeitig werden alle unangenehmen Fragen ausgeblendet.
Auf junge Menschen wirkt das alles wie ein überholtes Ritual. Sie wollen eine „Belebung“ des Gedenkens, persönliche Geschichten, Offenheit, ein Verständnis für die Schattenseiten des Krieges. Die Erinnerung muss in für sie verständlichen Medien präsentiert werden – Youtube, Instagram, digitalen Projekten und so weiter, mit der Möglichkeit zur Interaktion. Die Jugend will die Geschichte des Krieges „von unten“ sehen, als Erzählung einer persönlichen Erfahrung, nicht als Ansammlung stereotyper Propaganda-Parolen.
4. Inwiefern widerspiegeln kritische Haltungen gegenüber den aktuellen Machthabern andere Auffassungen von diesem Feiertag?
Natürlich wird in Belarus über verschiedene Interpretationen des Krieges gesprochen. Manche sehen in der Verehrung des Sieges eine spezifische Fortsetzung: die Rückkehr zum Stalinismus und seiner Vorkriegsatmosphäre. Manchen liegt die Idee von den zwei totalitären Systemen näher – dem nationalsozialistischen und dem sowjetischen und vor diesem Hintergrund dann die nationale Tragödie.
Mainstream in unserer Gesellschaft ist aber, dem Krieg die entscheidende Rolle für die Geschichte des 20. Jahrhunderts zuzuschreiben, für die Geschichte von Belarus und die kollektive Identität. Gerade deshalb hat die Gesellschaft den Machthabern lange alle Manipulationen verziehen – denn sie waren populistisch und verstärkten die Vorstellung vom Alleinanspruch auf Kriegserinnerung. Heute haben Manipulationen an der kollektiven Erinnerung einen gegenteiligen Effekt – man assoziiert das Regime mit den Manipulationen und nicht mit dem Bedürfnis nach Identität.
5. Gerade der Mythos der „Partisanenrepublik“ war lange mit der Identität von Belarus verbunden. Welche Bedeutung hat dieser Mythos heute noch?
Der Mythos ist tatsächlich erhalten, obwohl man schwer sagen kann, was wir mit dem Wort Partisanen überhaupt meinen. Zum Beispiel gab es während der Proteste sogenannte „Cyberpartisanen“, die die Internetseiten der staatlichen Behörden zu hacken versuchten. Oder wenn wir über die „Partisanen“-Taktik der Proteste sprechen.
Ich denke, wichtig sind hier weniger die Bezüge zum Zweiten Weltkrieg, obwohl es sie gibt (und die Partisanen-Bewegung ist in diesem Zusammenhang eines der komplexesten Themen), sondern vielmehr der Gedanke, dass „wir das schaffen“, die Idee, ein Subjekt zu sein, aktiv zu sein, zu handeln.
Ich denke außerdem, dass man schon lange aufgehört hat, das Wort „Republik“ im sowjetischen Sinne zu gebrauchen – als Terminus, der ein Teilgebiet der UdSSR beschreibt und nichts mit der politischen Bedeutung von res publica zu tun hat: einer gemeinsamen Sache, mit Solidarität, den Werten politischer Teilhabe.
6. Zeigt sich in den aktuellen Protesten eine politische Haltung der Bevölkerung, die möglicherweise der offiziellen Erinnerung zum Tag des Sieges kritisch gegenübersteht?
Die Proteste begannen im Zusammenhang mit politischem Betrug, sie hatten nichts mit der Interpretation der Geschichte des Zweiten Weltkriegs zu tun. Die erste Massendemo fand nach dem 9. August 2020 statt, rund um das Museum des Großen Vaterländischen Krieges in Minsk. Erst später ging das Regime dazu über, die Demonstrierenden fast schon zu Faschisten zu erklären, die die heiligen Werte mit Füßen treten würden – und bei allen späteren Protesten wurde das Museum durch das Militär abgeriegelt. Es war das Regime, das die Erinnerung an den Krieg instrumentalisierte. So versuchen die Ideologen der Staatsmacht, die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg für den Kampf gegen die politische Opposition zu instrumentalisieren (wie schon Mitte der 1990er Jahre), indem sie die Proteste von 2020 und ihre Symbolik mit dem Kollaborationismus zur Zeit des Zweiten Weltkriegs in Verbindung bringen.
7. Der Holocaust, der Belarus nahezu vollständig seiner jüdischen Bevölkerung beraubte, gehörte eigentlich nie zur offiziellen Erinnerungskultur zum Tag des Sieges. Gibt es dahingehend Wandlungsprozesse?
Ich sehe heute keine einheitliche Erinnerungskultur, die für alle gelten würde. In den staatlichen Medien spielt das Thema Holocaust während der Feierlichkeiten zum 9. Mai eine untergeordnete Rolle. Es gibt zwar noch andere Gedenktage, die dem Holocaust gewidmet sind, aber selbst dann wird nicht viel darüber geschrieben. Ich denke, dieses Jahr werden sich die Staatsmedien darauf konzentrieren, den Kollaborationismus der Kriegszeit mit den Protesten in Verbindung zu bringen. Aber viele haben kein Interesse an den staatlichen Medien, sie informieren sich stattdessen zum Beispiel in den sozialen Netzwerken. Dort sieht man viele Fotos, Familiengeschichten, darunter auch Erinnerungen an den Holocaust. Aber das ist die Mikroebene des Gedenkens.
8. Gibt es Debatten darüber, wie ein Tag des Sieges in Zukunft begangen werden könnte?
Öffentlich wird das Thema in Belarus kaum diskutiert. Ich erinnere mich zum Beispiel aber an die Präsentation der Publikation Kriegsgedenken als Event: Der 9. Mai 2015 im postsozialistischen Europa, die sich zum 70. Jahrestag des Kriegsendes mit dieser Frage beschäftigte. Darin wurden für alle betroffenen Länder verschiedene Szenarien gezeichnet: Dass der Feiertag zu „einem von vielen“ werden oder im Zuge der zunehmenden politischen Instrumentalisierung des Kriegsgedenkens in Belarus und Russland mehr und mehr profanisiert werden wird. Ich denke, die Instrumentalisierung des Gedenkens könnte auch zu einer Reaktualisierung der Erinnerung führen und den gegenteiligen Effekt haben, dass es da noch Diskussionen geben wird. Der Einsatz von Militärtechnik beispielsweise während der Niederschlagung der Proteste in Minsk hat eine große Debatte darüber ausgelöst, inwiefern wir die Erfahrung der Gewalt in unserem Land historisch reflektiert haben, unter anderem auch die zur Zeit des Zweiten Weltkriegs.
*Das französische Wort Bistro stammt angeblich vom russischen Wort bystro (dt. schnell). Während der napoleonischen Kriege sollen die hungrigen Kosaken in Paris den Kellnern zugerufen haben: „Bystro, bystro!“ (dt. „Schnell, schnell!“) Eine etymologische Herleitung, die leider nicht belegt ist. Aber eine schöne Geschichte.
Text: Alexey Bratochkin
Übersetzerin: Jennie Seitz
Veröffentlicht am 06.05.2021