Mitte Juli hat Wladimir Putin einen Aufsatz veröffentlicht: Über die historische Einheit von Russen und Ukrainern. Den Großteil der knapp 40.000 Zeichen widmet der Präsident der ukrainischen Geschichte. In einem Ritt vom Mittelalter bis zur Gegenwart argumentiert er, dass es eigentlich kein ukrainisches Volk gebe – vielmehr seien Russen, Ukrainer und Belarussen Teil einer „großen russischen Nation, eines dreieinigen Volkes“.
Erst zum Ende des 19. Jahrhunderts hätten einige wenige Nationalisten und ausländische Feinde Russlands eine ukrainische Nation konstruiert. Auch in der Gegenwart würden sie eine Front bilden, die Putin „Anti-Russland“ nennt. Diese Front habe einen „Bürgerkrieg“ im Osten des Landes angezettelt, dem schon über 13.000 Menschen zum Opfer gefallen sind. Russland habe aber „alles getan, um den Brudermord zu stoppen“, und schütze auch jetzt Millionen von Menschen in der Ukraine, die sich gegen den Kurs der ukrainischen „Zwangsassimilation“ stellen. Dieser aggressive Kurs gegen Russland ist laut Putin mit dem Einsatz von Massenvernichtungswaffen vergleichbar, „ohne Übertreibung“.
Nachdem der Aufsatz auf der Webseite des Kreml erschienen ist – auf Russisch und Ukrainisch – entlud sich im Internet massive Empörung: Verdrehung von Fakten, Geschichtsfälschung, Pseudowissenschaft, Manipulation, Ideologie – die Liste der Kritikpunkte ist lang. Auf Snob geht auch Konstantin Eggert auf die argumentativen Unzulänglichkeiten des Präsidenten ein. Die wichtigeren Fragen sind für den Journalisten aber die Fragen dahinter: Wie Putin zu solchen Erkenntnissen kommt, ob er selber daran glaubt und was er damit insgesamt bezweckt.
Wladimir Putins Artikel Über die Ukraine hat man in den sozialen Medien Wort für Wort auseinandergenommen. Der Mini-Enzyklopädie der Verdrehungen, Irrtümer und Fälschungen, die Dutzende von Menschen innerhalb kürzester Zeit erstellt haben, ist nichts hinzuzufügen. Allein Putins Hinweis auf die Zeitung Prawda als maßgebliche Quelle für die öffentliche Meinung in Karpatenrussland der 1940er Jahre ist schon bemerkenswert. Ich füge vielleicht noch meine persönlichen Eindrücke von einem Besuch in Kiew vor ein paar Wochen hinzu: Einer Stadt, die unter dem Joch einer nationalistischen Diktatur und „externen Kontrolle“ [Putin spricht von „Kontrolle durch die westlichen Staaten“ – dek] fast zusammenbricht, ähnelt es nicht die Spur.
Warum dieser Text?
Aus dem Artikel geht hervor, dass das von den ukrainischen Behörden eröffnete Strafverfahren gegen den prorussischen Politiker und Putin-Freund Medwedtschuk möglicherweise den Anstoß für den Text gegeben hatte. Eigentlich ist jedoch schon seit 2014 klar, dass es für das Regime Putins nichts Wichtigeres gibt als die ukrainische Frage.
Auf dem Weg zu dieser Realität befand sich der Kreml mehrfach an einem Scheideweg, an dem die Geschichte einen anderen Lauf hätte nehmen können: zunächst Ende Februar 2014 bei der Entscheidung, GRU-Spezialkräfte auf die Krim zu entsenden, um das dortige Regionalparlament zu besetzen. Zuletzt am 17. Juli desselben Jahres, als im Fernsehen ein sichtlich erschütterter Putin erschien, nachdem am Himmel über dem Donbass das Passagierflugzeug MH17 der Malaysia Airlines mit fast 300 Passagieren an Bord von einer Buk-Rakete abgeschossen worden war. Putin sagte irgendetwas Unverständliches, das nicht in Erinnerung blieb. Dabei hätte er aber doch eingestehen können, dass im Donbass nicht irgendwelche freiwilligen Bergarbeiter mit Militäruniformen aus dem Army-Shop agierten, sondern russische Streitkräfte. Dass sie das Flugzeug aus Versehen abgeschossen hatten. Und dass Russland jeder Familie, die ihre Angehörigen verloren hatte, eine großzügige Entschädigung zahlen würde.
„Dialog“ – jene besonders raffinierte Form des Sadomasochismus, die hinter der Kremlmauer stets für Gelächter sorgt
Ich war sicher, dass die Regierung Barack Obamas, ganz zu schweigen von den Staatschefs der Europäischen Union, die stets darauf bedacht sind „Russland zu verstehen“, nach einer kurzen Phase der Empörung und der Verabschiedung eines neuen Sanktionspakets (wie viele hat es seitdem schon gegeben?) wie gewöhnlich erneut den „Dialog“ suchen würden – jene besonders raffinierte Form des Sadomasochismus, die hinter der Kremlmauer stets für Gelächter sorgt.
Aber Putin zog es vor, an der Mär vom „Donbass-Volk, das sich erhebt“ festzuhalten. Seitdem ist er eine Geisel der erlogenen offiziellen Version, nach der es nie einen Konflikt zwischen Russland und der Ukraine gegeben hat. Bei dem Artikel handelt es sich um eine Art kanonische Version der Geschehnisse, eine allumfassende nachträgliche Erklärung, warum Putin schon immer Recht hatte. Denn er kämpfte gegen ein „Anti-Russland“. Dieses neue Mem, das auch von Alexander Dugin stammen könnte (vielleicht ist er der Autor), riecht schon von Weitem nach jenen „analytischen Berichten“ der russischen Geheimdienste mit ihrer seltsamen Mischung aus Messianimus (im Stile „Moskau – das Dritte Rom“), Krämergeist (man rechnete Putin aus, dass die Ukraine in den Jahren 1991–2013 angeblich 82 Milliarden Dollar durch russische Gaslieferungen eingespart habe) und Verschwörungstheorien.
Messianismus, Krämergeist und Verschwörungstheorien
Das ist das Erschreckendste. Schlimm genug, wenn solche schriftlichen Erzeugnisse aus der Feder irgendwelcher Genossen Majore stammen – schließlich sollen die Geheimdienste die Gesellschaft und den Staat doch vor realen Bedrohungen schützen. Aber ein Staatsoberhaupt, das in einer Welt aus Verschwörungsphantasien à la Umberto Eco lebt, das ist eine politische Katastrophe. Und zwar für alle Bürger Russlands, der Ukraine und Belarus‘.
Denn im Grunde genommen ist der Artikel ein Freibrief, den Putin sich selbst ausgestellt hat, um in irgendeiner Form gegen eben jenes „Anti-Russland“ zu kämpfen, unter dem in erster Linie die derzeitige ukrainische politische Klasse, aber auch der kollektive Westen verstanden werden.
Dieser Artikel ist eine schallende Ohrfeige für alle: für Russen, die bei der Europameisterschaft 2021 die ukrainische Mannschaft anfeuern und dabei aufrichtig glauben, dass „Ukrainer Idioten“ sind und die Krim „uns“ gehört. Für die russische Opposition, die bis auf wenige Ausnahmen versucht hat, auf zwei Stühlen zu sitzen: Putin zu bekämpfen, ohne die Themen der von ihm heraufbeschworenen Konflikte zu berühren – den Neoimperialismus und das Großmachtgebahren. Für die vielen, hauptsächlich europäischen Anhänger der Strategie, um jeden Preis „mit dem Kreml zu reden“. Und natürlich ist es ein „Signal“ für alle Mitglieder der Machtriege, bereit zu sein für neue Härtetests, neue Kriege und neue Sanktionen.
Er denkt, er habe alle gewarnt
Weder eine schnell voranschreitende Pandemie, noch demographische Probleme oder eine geringe Arbeitsproduktivität können Putin von seiner selbst auferlegten historischen Mission abbringen: dem Kampf gegen das in seiner Realität existierende „Anti-Russland“. Und wenn der Präsident morgen die Einstellung des Gastransits durch die Ukraine, die Anerkennung der sogenannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk oder gar den Angriff auf Mariupol verkündet, müssen wir uns nicht wundern. Putin denkt, er habe alle vor allem gewarnt.