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„Das ist ein Ozean aus Wahnsinn“

An den Grenzübergängen Russlands zu Estland und Lettland bilden sich derzeit lange Schlangen von Flüchtenden, die teilweise tagelang bei Minusgraden ausharren müssen: Es sind ukrainische Bürgerinnen und Bürger, die aus den von Russland annektierten Gebieten kommen. 
Meduza hat mit einzelnen von ihnen gesprochen – und auch mit Helferinnen und Helfern, die sich dort inzwischen eingefunden haben. Diese Augenzeugen schildern katastrophale Zustände auf russischer Seite und ein absichtliches Hinauszögern seitens der russischen Grenzbehörden. 

Wie das litauische Portal Delfi informiert, wurden am Donnerstag, 6. Oktober, einzelne Wohnungen von freiwilligen Helfern in der Oblast Pskow durchsucht. Delfi sowie Spiegel Online berichten außerdem über zahlreiche Zurückweisungen ukrainischer Flüchtlinge aus den von Russland besetzten Gebieten auf estnischer Seite. 

Source Meduza


„Grenzübergang Kunitschina Gora (Bezirk Petschorski, Oblast Pskow). Ukrainer. Vermutlich sind warme Speisen und Getränke willkommen, ebenso Heizöfen.“ / © Telegram-Kanal Pskowskaja Realnost

„Wir haben begriffen, dass sie uns für Vieh halten“

Andrej, ukrainischer Flüchtling (Name auf seinen Wunsch geändert)

 

Es gab für uns nur noch einen Weg [aus den russisch besetzten ukrainischen Gebieten] in die Ukraine – über Wassiliwka in der Oblast Saporishshja. Er wurde kurz vor dem 23. September und den Pseudoreferenden geschlossen. Männer zwischen 18 und 35 Jahren durften nicht mehr [aus der Oblast] ausreisen. Wir vermuteten, dass sie [die russischen Behörden] als nächstes anfangen würden, die Männer einzukassieren [zu mobilisieren], und beschlossen, lieber nicht darauf zu warten. Manche gehen auf die Krim, aber in Russland ist es unheimlich – da gibt es mehr Militärs als normale Menschen.

Ich bin mit meiner Frau und unserem Kind am 25. September aus dem besetzten Gebiet [in der Oblast Saporishshja] auf die Krim ausgereist, von dort aus sind wir nach Sankt Petersburg und dann weiter nach Iwangorod [an der russisch-estnischen Grenze – dek], wo wir andere ukrainische Flüchtlinge kennengelernt haben.

Wir mussten etwa zwei Tage warten. Jetzt lassen sie pro Tag schon 40 Menschen durch

Am 30. September kamen wir am Grenzübergang an. [In der Schlange] standen ungefähr zehn Leute. Wir dachten: „Super, dann sind wir schnell durch.“ Dann stellte sich heraus, dass die Russen wollten, dass sich die Leute der Reihe nach in Listen eintragen und schon 60 vor uns draufstehen. Die Listen werden eingesammelt, die Personalien in eine Datenbank eingetragen und die Menschen der Reihe nach aufgerufen. Alle diese 60 Menschen waren am 29. September angekommen, nur acht waren an diesem Tag durchgelassen worden. Um es gleich zu sagen: Wir mussten etwa zwei Tage warten. Jetzt lassen sie pro Tag schon 40 Menschen durch, sechs bis acht Menschen alle vier bis sechs Stunden.

Selbst wenn du mit einem kleinen Kind anstehst, wirst du nicht vorgelassen. Ich blieb an der Grenze, um Wache zu schieben – die Lage veränderte sich alle 15 Minuten. Meine Frau und unser Kind habe ich ins Hotel geschickt, in dem auch die anderen Familien wohnten.

Sie ließen uns manchmal eine halbe Stunde vor der Tür stehen, dabei waren es draußen tagsüber sieben Grad

Russen und Esten passieren die Grenze innerhalb von fünf Minuten. Einer [der Russen] stellte sich in die Schlange mit den Flüchtenden und regte sich auf: „Was ist denn hier los? Muss ich jetzt hier anstehen?“ Er fluchte. Die Grenzbeamtin zeigte auf die Schlange mit den Russen und sagte zu ihm: „Beruhigen Sie sich mal, da stehen die normalen Leute.“ Da begriffen wir, dass sie uns für Vieh halten. Außerdem waren alle, die [im Kontrollpunkt] saßen, durchgefroren und erkältet. Wir wurden [einfach so] nach draußen gejagt, zum Beispiel weil sie um vier oder sechs Uhr morgens die Böden wischen mussten. Sie ließen uns manchmal eine halbe Stunde vor der Tür stehen, dabei waren es draußen tagsüber sieben Grad. Es war kalt. Dazu [kommen] der Stress und die weite Reise.

Sie nehmen dir das Handy ab, wollen deine PIN wissen, nehmen es mit und jagen es durch ein Programm

Alle mussten durch die Filtration [auf russischer Seite]. Erst saßen wir im Kontrollpunkt und warteten, dass wir drankamen. Sie nahmen uns die Pässe ab, überprüften sie und holten uns [dann], um unsere Fingerabdrücke zu nehmen. Etwa alle vier Stunden wurden sechs bis sieben Leute aus der Liste [für die Filtration] abgeholt, nicht mehr. Um nicht getrennt zu werden, fragten [Familienangehörige, die nicht alle auf einer Liste standen], ob sie zusammen durchgehen können. Die Grenzbeamten verneinten und sagten, sie würden die vorlassen, die alleine anstehen. Also mussten die Familien Leute vorlassen und weitere vier bis sechs Stunden warten, bis sie an die Reihe kamen.

In der Filtrationszone nehmen sie dir das Handy ab, wollen deine PIN wissen, nehmen es mit und jagen es durch ein Programm. Keine Ahnung, wo sie überall reingeguckt haben, vielleicht haben sie es auch verwanzt – es ist alles möglich. Wir bekamen unsere Handys nach 15 bis 30 Minuten wieder, andere erst nach mehreren Stunden.

Sie sagen Dinge wie: ‚Wir bringen euch den Russki Mir, das gefällt euch wohl nicht?‘

Nachdem dir das Handy abgenommen wurde, geht es zum Verhör. Sie wollen wissen: „Was ist bei Ihnen los? Wie war Ihr Leben in der Ukraine vor diesen ganzen Ereignissen? Warum wollen Sie nicht in Russland bleiben?“ Sie fragen nach den Eltern, Schwestern, Brüdern. Sagen Dinge wie: „Wir bringen euch den Russki Mir, das gefällt euch wohl nicht?“ Stellen provokante Fragen. Manche wurden gefragt: „Wie finden Sie unseren Präsidenten?“ Naja, diesen Putin. Am Ende wurden wir durchgelassen.

Die estnische Grenze passierten wir innerhalb von 30 Minuten. Jetzt sind wir in Estland. In den Nachrichten lese ich, dass sie in Melitopol und Cherson schon die Männer einkassieren [im Zuge der Mobilmachung – dek]. In die Ukraine wollen wir erst zurück, wenn es wieder ruhig ist. Meine Familie hat Angst vor den Explosionen, bei uns [in der Stadt] wird täglich geschossen. Im Moment überlegen wir, wohin wir jetzt fahren.


„Das ist ein Ozean aus Wahnsinn“

Anna, freiwillige Helferin an den russischen Kontrollpunkten Kunitschina Gora und Schumilkino an der russisch-estnischen Grenze

Die Menschen, nicht nur Flüchtlinge, fahren zwischen den Grenzübergängen hin und her, stellen sich in verschiedenen Schlangen an und schauen, wo die Umstände besser sind. Es gibt viele Autofahrer und Fußgänger. Ganze Busladungen kommen an. Die Anzahl der Menschen [an den Grenzübergängen] ändert sich ständig, aber es sind immer mindestens 300 bis 400. Es ist ganz unterschiedlich, [allein] in Schumilkino haben wir [einmal] etwa 1000 Menschen gezählt. Manchmal kommt zum Beispiel ein Bus von der Krim, setzt die Leute irgendwo im Nichts [an der Grenze] ab, und sie stellen sich alle auf einmal an.

Diese Situation hat sich vor anderthalb Wochen angebahnt. Den Notruf bekamen wir am Mittwoch, 28. September: Es wurde von riesigen Schlangen berichtet, vor allem Fußgänger. Die Nächte werden kälter, tagelang in der Schlange auszuharren ist extrem schwierig. Als wir mit der ersten Partie humanitärer Hilfe ankamen, gab es unter den Wartenden bereits Menschen, die seit über drei Tagen anstanden.

Die Nächte werden kälter, tagelang in der Schlange auszuharren ist extrem schwierig

Manche kommen auch mit privaten Fuhrunternehmen. Einige mieten für einen Aufpreis einen Bus, der sie an die Grenze bringt und dann zwei Tage dort steht – da drin können sie sich wenigstens aufwärmen und schlafen. Auf der anderen Seite wartet entsprechend ein zweiter [Bus eines europäischen Unternehmens], aber wer [vorher] wie lange [an der Grenze] stehen muss, weiß niemand.

Seit Donnerstag, 29. September, helfen wir den [Flüchtlingen] aktiv. Wir arbeiten in fünf Richtungen: warmes Essen und Heißgetränke, warme Kleidung, Schutz vor Regen, Übernachtungsmöglichkeit und Evakuierung auf anderem Weg.

Als klar wurde, dass wir es nicht [allein als Freiwillige] schaffen, gingen wir an die Öffentlichkeit und riefen die Leute zur Mithilfe auf. Jetzt gibt es Menschen, die sich organisieren und [Lebensmittel an die Grenze] bringen. Viele von ihnen helfen schon lange, aber plötzlich waren viel mehr Ressourcen nötig als früher.

Vor Müdigkeit und Kälte sind die Kinder in einem schlechten Zustand. Viele bekommen eine Mandelentzündung. Manche haben Fieber. Die Freiwilligen und andere Einwohner [der umliegenden Städte] nehmen die Menschen bei sich auf, damit sie sich aufwärmen können, in erster Linie Frauen mit Kindern. Aber auch wenn jemand anderes um Hilfe bittet, versucht man ihm zu helfen. Manche haben Angst, zu uns nach Hause zu fahren, um dort zu übernachten, aber dann beruhigen sie die Leute, die schon bei uns waren oder ihre Angehörigen mitgeschickt haben.

Die Kinder sind in einem schlechten Zustand. Viele bekommen eine Mandelentzündung. Manche haben Fieber

Ich habe das Gefühl, dass die [städtischen und regionalen] Behörden nicht wollen, dass die einfachen Bewohner zu viel von den Ereignissen mitbekommen. Nachdem von drei Todesfällen in der Schlange berichtet wurde, ist sichtlich mehr getan worden. Es handelte sich um ältere Menschen. Eine Frau starb in Petschory [Oblast Pskow, in der Nähe der estnischen Grenze – dek], den Tod einer anderen Frau meldete ein Mann aus der Schlange in Ubylinka [an der russisch-lettischen Grenze – dek]. Wo der dritte Fall war, weiß ich nicht mehr. Ein anderer Mann erlitt einen epileptischen Anfall und wurde mit dem Krankenwagen geholt. Und das sind nur die Fälle, von denen wir wissen.    

Nachdem von drei Todesfällen in der Schlange berichtet wurde, ist sichtlich mehr getan worden

Viele [Flüchtende aus der Ukraine] bedanken sich und sind verwundert, dass es in Russland Freiwillige gibt. Trotz der vielen Arbeit unterstützen wir uns gegenseitig. Wir umarmen uns oft. Wenn sie weinen, muss ich auch weinen. Die Möglichkeit, ihnen zu helfen, ist für mich das ganze halbe Jahr schon eine echte Rettung. Jetzt ist der Strom der Menschen dünner geworden und die Lage hat sich etwas stabilisiert. 

Sehr oft arbeiten die Flüchtenden, denen wir hier helfen, später als Freiwillige, wenn sie auf der anderen Seite der Grenze sind. Angehörige von Leuten, die es herausgeschafft haben, fragen uns, wie sie für uns Geld spenden oder sonst helfen können. Es gibt Menschen, die nie gedacht hätten, dass jemand einen Unbekannten ins Haus lassen könnte, um zu helfen.

Das ist ein Ozean aus Wahnsinn, in dem die Menschen sich verzweifelt abstrampeln. Plötzlich findet einer jemandes Hand und hält sie. Alle klammern sich aneinander und es bildet sich ein stabiles Floß. Dadurch helfen die Menschen, das Menschliche zu bewahren und sich im Kampf mit den Schrecken des Krieges über Wasser zu halten. Leider ist der Preis, der für eine solche Entwicklung und ein solches gegenseitiges Verständnis, für die Idee von Freiwilligenarbeit und gegenseitiger Hilfe gezahlt werden musste, viel zu hoch.


„Ich habe mich noch nie im Leben an Freiwillige wenden müssen, und ich habe nicht einmal gewusst, dass es so weit kommen kann“


Alina, Flüchtende. Aus dem von Russland besetzten Cherson hat sie ihr Weg über die Krim nach Sankt Petersburg geführt. Sie hat die russisch-estnische Grenze bei Iwangorod überquert.

Wir [meine Familie und ich] konnten bis zuletzt nicht weg. Alle dachten, dass sich etwas ändern würde. Alle sagten mir: „Fahr doch, was sitzt du hier noch rum?!“. Wir konnten uns nicht durchringen. Das Entscheidende war dann das „Referendum“. Als es angekündigt wurde, waren die Abschiedstränen zweitrangig. Uns war klar: Wenn das Referendum stattfindet und so abläuft, wie es die andere Seite [Russland] will, dann wird hierher [nach Cherson] keiner [von uns] zurückkehren.

Das Entscheidende war das „Referendum“. Als es angekündigt wurde, waren die Abschiedstränen zweitrangig

[An der russisch-estnischen Grenze] versuchten wir herauszufinden, wer der letzte [in der Schlange] ist. Als Antwort wurden wir in eine Liste eingetragen. Dann fragten wir, wie viele abgefertigt werden. Sie sagten, dass heute bisher nur zwei durchgelassen wurden. Die Schlange ist hundert Menschen lang; es ist schon nach Mittag. Da wurde uns klar, wie lange wir hier stehen müssen.

Es gibt sehr viele Kinder und Rentner. Das Einzige, was uns gefreut hat, war, dass Männer und Frauen über 60 außer der Reihe durchgelassen wurden. Wenn aber ein Mann oder eine Frau über 60 mit ihren Kindern unterwegs ist, die, sagen wir mal, 40 Jahre alt sind, dann bleiben sie bei ihren Kindern, weil sich niemand in einer solchen Situation trennen will. Ein weiteres Problem sind die Kinder, [an der Grenze] gibt es Winzlinge von drei Monaten.

Ein Problem sind die Kinder, es gibt Winzlinge von drei Monaten

Ich weiß nicht, warum das so ist, aber an Toiletten fehlt es am russischen Grenzübergang völlig. Die gibt es dort auf dem Gelände einfach nicht. Vielleicht gibt es im Gebäude eine; die Mitarbeiter brauchen sie wohl. Doch für Besucher, für Wartevolk wie uns, gibt es keine. Ich habe mitbekommen, wie eine Frau eine Mitarbeiterin danach fragte. Die antwortete: „Wir haben hervorragende Bio-Toiletten, gehen Sie zum Gewässer [beim Grenzübergang] oder in die Büsche.“ Nebenan steht noch ein verlassenes Gebäude, mit dem wir uns in dieser Hinsicht „vertraut“ gemacht haben; früher gab es dort irgendein Geschäft, doch hängt da jetzt ein Schild: „geschlossen“.

Weil uns der Bus einfach abgesetzt hat [und wieder weggefahren ist], haben wir an der Grenze entweder auf der Straße gestanden oder waren im Gebäude. Vielen Dank an die Frauen, die dort arbeiten. Sie kamen und sagten: „Frauen und Kinder, kommen Sie und wärmen Sie sich auf. Die Männer bleiben auf der Straße, weil nicht genug Platz ist.“ In das kleine Zimmer passten aber nicht alle rein, die sich aufwärmen wollten; da gab es nur drei Bänke. Wir haben auf den Fensterbänken gesessen, auf dem Boden, auf den Koffern.

In das kleine Zimmer passten nicht alle rein, die sich aufwärmen wollten; da gab es nur drei Bänke

Eine Nacht mussten wir draußen verbringen. Auf der Bank konnte man nicht sitzen, da war der Wind zu kalt, der vom Wasser herüberwehte. Also versuchst du, dichter am Gebäude zu sitzen, dort ist es ein klein bisschen wärmer. Da störst du die Leute, die mit ihren Koffern herauskommen, denn du versperrst den Weg. Ich hätte natürlich [ab und zu] in dieses Zimmer gehen können, aber da gab es absolut keinen Platz. Ich stellte mich neben die Tür, um mir die Hände zu wärmen, dann ging ich wieder weg.

Die Freiwilligen sind irgendwie Zauberer

Es gab überhaupt kein Wasser [am Grenzübergang]. Wir haben es in der Stadt gekauft, als wir das, was wir mitgebracht hatten, leergetrunken hatten. Und die Freiwilligen haben geholfen; sie brachten Wasser in Plastikflaschen und heißes Wasser. Essen hatten wir zuvor schon bekommen, aber die Freiwilligen brachten auch Bouillon, Gebäck, Kuchen und Printen vorbei.

Die Freiwilligen sind irgendwie Zauberer. Du weißt: Was auch passiert, sie helfen dir von A bis Z, selbst nachts. Ich habe mich noch nie im Leben an Freiwillige wenden müssen, und ich habe nicht einmal gewusst, dass es so weit kommen kann.


„Die Lage hat sich seit Beginn der ‚Referenden‘ bis zum Anschlag zugespitzt“

Iwan, Freiwilliger an der russisch-lettischen Grenze (Name auf seinen Wunsch geändert)

Wenn es früher nur an zwei Grenzübergängen Schlangen gab (in Buratschki und Ubylinka), kommt es in den letzten zwei Wochen nun überall zum Kollaps. 

Die Lage mit den Schlangen an den fünf Grenzübergängen im Gebiet Pskow hat sich seit Beginn der „Referenden“ bis zum Anschlag zugespitzt. Die fahren selbständig oder gegen Bezahlung mit Hilfe von privaten Fuhrunternehmen zu den Grenzübergängen für Fußgänger. Während Neue ankommen, sind ihre „Vorgänger“ noch nicht rüber [über die Grenze]. Die russischen Grenzübergänge sind wie Flaschenhälse, sie lassen einen dort stundenlang warten; manchmal werden [nur] drei, vier Autos pro Tag abgefertigt.

Die russischen Grenzübergänge sind wie Flaschenhälse, sie lassen einen dort stundenlang warten

In Iwangorod hat sich eine Zwei-Tage-Schlange aufgelöst, das bedeutet aber nicht, dass sich nicht wieder eine bildet. Anscheinend haben die Mitarbeiter des russischen Zolls nach dem Selbstmordversuch [eines ukrainischen Flüchtlings] dann schneller gearbeitet. Diejenigen, die Schlange stehen, sagen allerdings, dass die russischen Grenzer mit mehrstündigen Pausen arbeiten. Dabei warten viele dort, fast alles Flüchtende. Russen mit Touristenvisa werden nicht rausgelassen, wer aber aus geschäftlichen, familiären oder arbeitstechnischen Gründen oder wegen Immobilienangelegenheiten ein Visum hat, wird recht zügig abgefertigt. Sie kommen dabei vor den Flüchtenden an die Reihe.

Diejenigen, die Schlange stehen, sagen, dass die russischen Grenzer mit mehrstündigen Pausen arbeiten

Neben dem Grenzübergang können keine Zelte oder Stellen zum Aufwärmen errichtet werden, weil das Grenzgebiet ist. Die Leute, die Mitgefühl haben, können sich nicht darum kümmern, weil das [Errichten solcher Stellen] verboten ist. Diejenigen, die den Flüchtenden helfen wollen, haben nicht genug Kraft, um „den Brand zu löschen“: Es gibt zu wenig Freiwillige und sehr viele Flüchtende. Nicht weit vom russisch-estnischen Übergang Kunitschina Gora gibt es wenigstens das Mariä-Entschlafungs-Kloster in Petschory. Es wird erzählt, dass die Flüchtenden dort mit Essen versorgt wurden, aber jetzt wohl nicht mehr. Im Großen und Ganzen gibt es nichts, wo die Menschen hinkönnen – all diese Grenzübergänge liegen praktisch auf der grünen Wiese.

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Russlands Passportisierung des Donbas

Seit 2019 hat Russland schätzungsweise 530.000 Menschen in den sogenannten „Volksrepubliken“ in der Ostukraine einen russischen Pass ausgestellt. Diese Menschen will Russland mit seinem Krieg vor einem „Genozid retten“.

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Krieg im Osten der Ukraine

Bei dem bewaffneten Konflikt im Osten der Ukraine beziehungsweise im Donbass handelt es sich um einen Krieg, der von seit April 2014 zwischen ukrainischen Streitkräften und Freiwilligenbataillonen auf der einen Seite sowie separatistischen Milizen der selbsternannten Volksrepubliken von Donezk und Luhansk (DNR und LNR) und russischen Soldaten auf der anderen Seite geführt wurde. Am 24. Februar 2022 befahl Putin den Angriff auf das Nachbarland – aus dem verdeckten ist ein offener Krieg geworden.

Die zentralen Vorgänge, die den Krieg in der Ostukraine bis dahin geprägt hatten: Vorgeblich ging es dabei um die Gebietshoheit der beiden ostukrainischen Verwaltungsbezirke Donezk und Luhansk – dem sogenannten Donbass, der zu etwa einem Drittel nicht unter Kontrolle der ukrainischen Regierung ist. In der Ukraine sowie in der Europäischen Union ist man bis heute überzeugt, dass Russland die Separatisten immer finanziell, personell und logistisch unterstützt hat. Demnach hat Russland den Donbass vor allem als Instrument genutzt, um die Ukraine langfristig zu destabilisieren und somit gleichzeitig kontrollieren zu können. Russland hatte eine militärische Einflussnahme und Destabilisierungsabsichten stets bestritten.

Die Entstehung des Krieges und wie die EU und die USA mit Sanktionen darauf in dem jahrelangen Konflikt reagiert hatten – ein Überblick. 

Nachdem Ende Februar 2014 der ukrainische Präsident Janukowytsch im Zuge der Maidan-Proteste gestürzt wurde, russische Truppen kurze Zeit später die Krim okkupierten und die Annexion der Halbinsel auf den Weg brachten, ist die Situation im Donbass schrittweise eskaliert.

Zunächst hatten pro-russische Aktivisten im April 2014 Verwaltungsgebäude in mehreren ostukrainischen Städten besetzt. Forderungen, die hier artikuliert wurden, waren diffus und reichten von mehr regionaler Selbstbestimmung bis hin zur Unabhängigkeit von der Ukraine und einem Anschluss an Russland.

Während sich in Charkiw die Situation nach der polizeilichen Räumung der besetzten Gebietsverwaltung rasch entspannte, kam es in Donezk und Luhansk zur Proklamation eigener Republiken. Parallel wurden Polizeistationen und Gebäude des ukrainischen Inlandsgeheimdienstes gestürmt sowie dortige Waffenarsenale gekapert. Wenige Tage später traten in der Stadt Slowjansk (Donezker Verwaltungsbezirk) unter dem Kommando des russischen Geheimdienstoberst Igor Girkin erste bewaffnete „Rebellen“ in Erscheinung. Girkin, der bereits zuvor an Russlands Okkupation der Krim beteiligt gewesen war und zwischen Mai 2014 und August 2014 als Verteidigungsminister der DNR fungierte, behauptete später, dass der Krieg im Donbass mitnichten aus einem Aufstand russischsprachiger Bewohner der Region resultierte. Er betonte indes, dass dieser „Aufruhr“ ohne das Eingreifen seiner Einheit schnell zum Erliegen gekommen wäre.1

Eskalation

Tatsächlich begannen die bewaffneten Kampfhandlungen in dem von Girkins Einheit besetzten Slowjansk. Um die Stadt zurückzugewinnen, startete die ukrainische Regierung eine „Anti-Terror-Operation“ mit Beteiligung der Armee. Während die Separatisten in den von ihnen kontrollierten Orten des Donbass im Mai 2014 sogenannte Unabhängigkeitsreferenden durchführen ließen, weiteten sich in der Folgezeit die Gefechte zwischen ukrainischen Streitkräften und Freiwilligenverbänden auf der einen und den Separatisten auf der anderen Seite stetig aus.

In deutschsprachigen Medien und in der internationalen Diplomatie wurde seither häufig von einer „Krise“ oder einem „Konflikt“ gesprochen. Tatsächlich erreichte die militärische Eskalation unter quantitativen Aspekten, die sich auf eine bestimmte Anzahl von zivilen und nicht-zivilen Opfern pro Jahr beziehen, bereits 2014 den Zustand eines Krieges.2 Auch unter qualitativen Gesichtspunkten erfüllte der bewaffnete Konflikt ab 2014 sämtliche Merkmale eines Krieges, wie ihn beispielsweise die Arbeitsgemeinschaft Kriegsursachenforschung der Universität Hamburg definiert3.

Neben der Involvierung russischer Freischärler und Söldner4 mehrten sich im Verlauf der kriegerischen Auseinandersetzungen Berichte über großkalibrige Kriegsgeräte, die den von den Separatisten kontrollierten Abschnitt der russisch-ukrainischen Grenze passiert haben sollen.5 Hierzu soll auch das Flugabwehrraketensystem BUK gehören, mit dem nach Auffassung des internationalen Ermittlungsteams das Passagierflugzeug MH17 im Juli 2014 über Separatistengebiet abgeschossen wurde.6 Reguläre russische Streitkräfte sollen indes ab August 2014 erstmalig in das Geschehen eingegriffen haben, nachdem die ukrainische Seite zuvor stetige Gebietsgewinne verbuchen und Städte wie Kramatorsk, Slowjansk, Mariupol und Awdijiwka zurückerobern konnte.7

Die EU verhängte im Sommer 2014 aufgrund der „vorsätzlichen Destabilisierung“8 der Ukraine weitreichende wirtschaftliche Sanktionen gegen Russland. Russland stritt eine Kriegsbeteiligung eigener regulärer Soldaten jedoch stets ab: So hätten sich beispielsweise Soldaten einer russischen Luftlandlandedivision, die in ukrainische Gefangenschaft geraten waren, nach Angaben des russischen Verteidigungsministeriums verlaufen und die Grenze zur Ukraine nur  aus Versehen überquert.9 Die russische Menschenrechtsorganisation Komitee der Soldatenmütter Russlands indes beziffert die Zahl russischer Soldaten, die im Spätsommer 2014 auf ukrainischem Territorium im Einsatz gewesen seien, mit rund 10.000.10

Einen Wendepunkt des Kriegsverlaufs stellte schließlich die Schlacht um die ukrainische Kleinstadt Ilowajsk dar, bei der die ukrainische Seite im September 2014 eine herbe Niederlage erfuhr und mehrere hundert gefallene Soldaten zu beklagen hatte.11

Die ukrainische Regierung hat die NATO mehrfach vergeblich um Waffenhilfe gebeten. Allerdings legte die NATO spezielle Fonds an, die zu einer Modernisierung der ukrainischen Streitkräfte beitragen sollen. Diese Fonds dienen unter anderem der Ausbildung ukrainischer Soldaten, der Verbesserung von Kommunikationsstrukturen, der Stärkung von Verteidigungskapazitäten im Bereich der Cyberkriegsführung sowie der medizinischen Versorgung von Soldaten.12 Darüber hinaus erhält die Ukraine Unterstützung in Form von sogenannter nichttödlicher Militärausrüstung wie Helmen und Schutzwesten, Funkgeräten und gepanzerten Geländewagen, unter anderem von den USA.13 

Verhandlungen

Die zunehmende Eskalation des Krieges brachte eine Intensivierung internationaler Vermittlungsbemühungen mit sich. Bereits im März 2014 hatte der Ständige Rat der OSZE eine zivile Sonderbeobachtermission für die Ukraine beauftragt und wenig später eine trilaterale Kontaktgruppe zwischen der Ukraine, Russland und der OSZE ins Leben gerufen. Auf Ebene der Staats- und Regierungschefs etablierte sich das sogenannte Normandie-Format zwischen der Ukraine, Russland, Deutschland und Frankreich. Im September 2014 machte es die Unterzeichnung des sogenannten Minsker Protokolls durch die OSZE-Kontaktgruppe möglich.

Nach anhaltenden Kämpfen, vor allem um den Flughafen von Donezk sowie die Stadt Debalzewe, kam es im Februar 2015 zu einem erneuten Zusammentreffen des Normandie-Formats in Minsk. Im Minsker Maßnahmenpaket (Minsk II) konkretisierten die Parteien sowohl einen Plan zur Entmilitarisierung als auch politische Schritte, die zur  Lösung des Konflikts beitragen sollten.

Das Maßnahmenpaket umfasst dreizehn Punkte, die schrittweise unter Beobachtung der OSZE umgesetzt werden sollen. Hierzu gehört der Waffenstillstand sowie der Abzug schwerer Kriegsgeräte und sogenannter „ausländischer bewaffneter Formationen“. Außerdem soll in der ukrainischen Verfassung ein Sonderstatus für die Separatistengebiete verankert werden. Nicht zuletzt sieht das Maßnahmenpaket vor, dass Kommunalwahlen in diesen Gebieten abgehalten werden. Außerdem soll die ukrainisch-russische Grenze wieder durch die ukrainische Regierung kontrolliert werden.14

Entwicklung seit Minsk II

Auch unmittelbar nach der Unterzeichnung des Minsker Abkommens hielten jedoch vor allem in Debalzewe heftige Gefechte an, bis die Stadt schließlich wenige Tage später unter die Kontrolle der Separatisten fiel. Auch hier soll – wie bereits zuvor in Ilowajsk – reguläres russisches Militär massiv in das Kriegsgeschehen eingegriffen haben.15 Erst nach dem Fall von Debalzewe nahmen die Kampfhandlungen ab. Zu Verletzungen der Waffenruhe, Toten und Verletzten entlang der Frontlinie kam es seither dennoch beinahe täglich.16 Dies macht eine Umsetzung des Minsker Maßnahmenpakets bis heute unmöglich.

Schwere Gefechte mit dutzenden Toten brachen zuletzt rund um die Stadt Awdijiwka aus. Awdijiwka, das im Sommer 2014 von ukrainischer Seite zurückerobert wurde und dem Minsker Protokoll entsprechend unter Kontrolle der ukrainischen Regierung steht, hat als Verkehrsknotenpunkt sowie aufgrund der dort ansässigen Kokerei eine besondere strategische und ökonomische Bedeutung. Die Stadt ist in der Vergangenheit immer wieder unter Beschuss geraten.17 Im Januar 2017 kam es dort auch zur Zerstörung kritischer Infrastruktur: Dabei fielen in der Stadt bei Temperaturen von unter minus 20 Grad mehrere Tage die Strom-, Wasser- und Wärmeversorgung aus. Allein am 31. Januar 2017 berichtete die Sonderbeobachtermission der OSZE von mehr als 10.000 registrierten Explosionen – die höchste von der Mission bisher registrierte Anzahl an Waffenstillstandsverletzungen.18

Laut Schätzungen der Vereinten Nationen aus dem Jahr 2019 sind seit Beginn des Krieges im Donbass rund 13.000 Menschen gestorben. Die Anzahl der Verletzten beziffern die Vereinten Nationen mit über 24.000. Bei mehr als 2000 Todesopfern sowie etwa 6000 bis 7000 Verletzten handelt es sich um Zivilisten.19 Menschenrechtsorganisationen geben zudem an, etliche Fälle von Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen dokumentiert zu haben.20 Im November 2016 erklärte die Chefanklägerin des Internationalen Strafgerichtshofs (ICC) in Den Haag, dass Anzeichen für einen internationalen bewaffneten Konflikt zwischen Russland und der Ukraine vorliegen.21 Die russische Regierung zog daraufhin ihre Unterschrift unter dem Statut des ICC zurück. 

Neben tausenden Toten und Verletzten hat der Krieg auch zu enormen Flüchtlingsbewegungen geführt. Das ukrainische Ministerium für Sozialpolitik registrierte bis Mitte 2016 über 1,6 Millionen Binnenflüchtlinge; das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen geht in seinen eigenen Berechnungen derweil von 800.000 bis einer Million Binnenflüchtlingen aus.22 Daneben haben knapp 1,5 Millionen Ukrainer seit Ausbruch des Krieges Asyl oder andere Formen des legalen Aufenthalts in Nachbarstaaten der Ukraine gesucht. Nach Angaben russischer Behörden sollen sich rund eine Million Ukrainer in der Russischen Föderation registriert haben.23


1.vgl.: Zavtra.ru: «Kto ty, «Strelok»?» und Süddeutsche Zeitung: „Den Auslöser zum Krieg habe ich gedrückt“
2.vgl. University of Uppsala: Uppsala Conflict Data Program
3.vgl. Arbeitsgemeinschaft Kriegsursachenforschung der Universität Hamburg: Laufende Kriege
4.Neue Zürcher Zeitung: Nordkaukasier im Kampf gegen Kiew
5.The Guardian: Aid convoy stops short of border as Russian military vehicles enter Ukraine sowie Die Zeit: Russische Panzer sollen Grenze überquert haben
6.vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung: Minutiös rekonstruiert
7.Für eine detaillierte Auflistung der im Krieg in der Ukraine involvierten regulären russischen Streitkräfte siehe Royal United Services Institute: Russian Forces in Ukraine
8.vgl. europa.eu: EU-Sanktionen gegen Russland aufgrund der Krise in der Ukraine
9.vgl. tass.ru: Minoborony: voennoslzužaščie RF slučajno peresekli učastok rossijsko-ukrainskoj granicy
10.vgl. TAZ: Es gibt schon Verweigerungen
11.vgl.Frankfurter Allgemeine Zeitung: Ein nicht erklärter Krieg
12.vgl. nato.int: NATO’s support to Ukraine
13.vgl. Die Zeit: US-Militärfahrzeuge in Ukraine angekommen
14.vgl. osce.org: Kompleks mer po vypolneniju Minskich soglašenij
15.vgl. ViceNews: Selfie Soldiers: Russia Checks in to Ukraine
16.vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung: Wer bricht den Waffenstillstand?
17.vgl. Die Zeit: Wo Kohlen und Geschosse glühen
18.osce.org: Latest from the OSCE Special Monitoring Mission to Ukraine (SMM), based on information received as of 19:30, 31 January 2017
19.vgl.: Office of the United Nations High Commissioner for Human Rights: Report on the human rights situation in Ukraine: 16 August to 15 November 2016
20.vgl. Helsinki Foundation for Human Rights/Justice for Peace in Donbas: Surviving hell - testimonies of victims on places of illegal detention in Donbas
21.vgl. International Criminal Court/The Office of the Prosecutor: Report on Preliminary Examination Activities 2016
22.vgl. unhcr.org: Ukraine
23.vgl. unhcr.org: UNHCR Ukraine Operational Update
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Donezker Volksrepublik

Die Donezker Volksrepublik ist ein von Separatisten kontrollierter Teil der Region Donezk im Osten der Ukraine. Sie entstand im April 2014 als Reaktion auf den Machtwechsel in Kiew und erhebt zusammen mit der selbsternannten Lugansker Volksrepublik Anspruch auf Unabhängigkeit. Seit Frühling 2014 gibt es in den beiden Regionen, die eine zeitlang Noworossija (dt. Neurussland) genannt wurden, Gefechte zwischen den Separatisten und der ukrainischen Armee.

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Grüne Männchen

Als kleine grüne Männchen, manchmal auch höfliche Menschen, werden euphemistisch die militärischen Spezialkräfte in grünen Uniformen ohne Hoheitsabzeichen bezeichnet, die Ende Februar 2014 strategisch wichtige Standorte auf der Krim besetzt haben. Bestritt Moskau zunächst jegliche direkte Beteiligung und verwies auf „lokale Selbstverteidungskräfte“, so gab Präsident Putin später zu, dass es sich dabei um russische Soldaten gehandelt hat. Die grünen Männchen sind inzwischen zu einem kulturellen Symbol geworden.

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Ein kurzer Augenblick von Normalität und kindlicher Leichtigkeit im Alltag eines ukrainischen Soldaten nahe der Front im Gebiet , © Mykhaylo Palinchak (All rights reserved)