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Russland und der Kolonialismus

Kolonialimperien – das sind immer die anderen. Und doch hat Russland über eine Vielzahl an Völkern geherrscht und sein Territorium seit dem 16. Jahrhundert auf das 22-Fache vergrößert. Von der Eroberung Sibiriens bis zur angeblichen „Brüderlichkeit der Sowjetvölker“ wird die Kontinuität des russischen Kolonialismus im Krieg gegen die Ukraine besonders deutlich. Die vor diesem Hintergrund erstarkende Idee einer Dekolonisierung Russlands versucht der Kreml mit allen Mitteln zu unterdrücken. 

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Olga Skabejewa

Zweimal täglich erklärt die Moderatorin im Staatsfernsehen die Welt aus Moskauer Sicht. An manchen Tagen ist sie bis zu fünf Stunden mit Desinformation und Kriegshetze nach Vorgaben des Kreml auf Sendung. Skabejewas Spezialgebiet ist der Vollkontakt: Je nach Bedarf werden Gegner provoziert oder niedergebrüllt. 

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Margarita Simonjan

Ihre steile Karriere begann mit einer Lüge im staatlichen Auftrag. Heute kokettiert die Chefin des Propaganda-Senders RT und der staatlichen Medienholding Rossija Sewodnja offen mit ihrer Rolle als Gesicht der russischen Desinformation. Der Kreml belohnt sie großzügig dafür. 

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Der Baltische Weg: die Menschenkette vom 23. August 1989

Nationale Trikoloren, brennende Kerzen, hunderttausende von Menschen, die sich an den Händen halten, Lieder singen und über das Radio Ansprachen hören. Am 23. August 1989 bilden circa eine Million Menschen eine Kette, die auf einer Strecke von über 670 Kilometern von Tallinn über Riga nach Vilnius reicht. Als es dunkel wird, zünden sie Kerzen an als Erinnerung an die Opfer der Sowjetherrschaft. Es heißt, diese Lichterkette sei sogar aus dem All zu sehen gewesen. 

Der Sommer 1989 war reich an politischen Symbolen. Erst wenige Tage zuvor hatte das Paneuropäische Picknick an der Grenze von Ungarn zu Österreich buchstäblich ein erstes Schlupfloch im Eisernen Vorhang geschaffen. Der Ostblock schien sich von der Umklammerung Moskaus zu lösen, mit Einverständnis des Generalsekretärs der KPdSU Michail Gorbatschow

Und nun, am 50. Jahrestag des Hitler-Stalin-Paktes, der die Aufteilung Europas zwischen den beiden Diktatoren bewirkt hatte und Hitler den Zweiten Weltkrieg entfesseln ließ, kommt ein Thema auf die Tagesordnung zurück, das im Westen nahezu vergessen war: Die 1940 erfolgte sowjetische Annexion der drei baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen. 

Eine Kette von hunderttausenden Menschen verband am 23. August 1989 Tallinn, Riga und Vilnius / Foto © Rimantas Lazdynas/wikimedia unter CC BY-SA 3.0

Zwar hatte es einige Westmächte gegeben, darunter die USA, welche diese gewaltsame Gebietserweiterung Stalins nie anerkannt haben. De facto aber wollte niemand an der sowjetischen Oberherrschaft an der Ostsee rütteln. Das war spätestens 1956 auch im nun sowjetischen Baltikum verstanden worden. Seither begann eine Zeit, in der man sich unter den Bedingungen der Fremdherrschaft einrichtete. Als schließlich die Perestroika einsetzte, begann eine ungeahnte politische Mobilisierung: Erst gegen die Ausbeutung der Umwelt durch zentrale Ministerien (Phosphatabbau in Estland, Ausbau der Hydroenergie an der Düna in Lettland), dann für historische Gerechtigkeit. Moskau sollte gezwungen werden, die Existenz der Geheimen Zusatzprotokolle zum Hitler-Stalin-Pakt zu bestätigen und diesen dann als illegal zu verurteilen – und damit auch die Annexion der drei Staaten. 

Reaktionen des Westens

Der Westen, inklusive der Bundesrepublik Deutschland, verhielt sich distanziert gegenüber den Forderungen der Balten. Um Gorbatschow an der Macht zu halten, versuchte er besänftigend auf Tallinn, Riga und Vilnius einzuwirken. Im Sommer 1989 war jedem Beobachter klar, dass Gorbatschow eine Sezession der drei Staaten politisch wohl nicht überleben würde. Den Bestand der Union, zu der die drei baltischen Republiken gehörten, konnte Gorbatschow auf keinen Fall preisgeben. 

Singende Revolution

Die Volksfronten, die mittlerweile innenpolitisch in den drei baltischen Sowjetrepubliken dominierten, sahen das anders. Sie waren im Laufe des Jahres 1988 zur Unterstützung der Reformen gegründet worden und hatten bei den Wahlen zum Moskauer Volksdeputiertenkongress im Frühjahr 1989 große Erfolge erzielen können. Sie hatten die Kommunistischen Parteien in die Defensive gezwungen, welche nun zum Teil ihr Heil in der Kooperation mit ihnen suchten. 

Das Jahr 1988 war das Jahr der „Singenden Revolution“ gewesen, vor allem in Estland. Hier war auch dieser Begriff geprägt worden. Im September des Jahres kamen zu einem Liederfest in Tallinn wohl an die 300.000 Menschen aus der ganzen Republik zusammen – bei gut 1,5 Millionen Einwohnern (1989). Die Erfahrung einer derartigen Massenmobilisierung wurde im folgenden Jahr von den Organisatoren der Menschenkette immer wieder als Beispiel bemüht. 

Menschenkette 1989

Es ist heute kaum vorstellbar, wie eine solche grenzüberschreitende Aktion ohne Mobiltelefon und Internet organisiert werden konnte – und das im Laufe von gerade einmal einem Monat. Denn erst im Mai 1989 waren in Tallinn die Führungen der drei baltischen Volksfronten zusammengekommen, um über gemeinsame Ziele und Aktionen zu beraten. Von einer Menschenkette war in den offiziellen Deklarationen noch nicht die Rede. Erst am 15. Juli kam es zum trilateralen Beschluss: Wir machen es. 

Wer die Idee erstmals aussprach, ist schwer zu rekonstruieren. Menschenketten hatte es in den USA, in Schweden, aber auch bereits in der Litauischen SSR gegeben. Daher beanspruchen die Litauer die Idee für sich, doch wird in lettischen Quellen wie auch in den Erinnerungen vieler Mitglieder der estnischen Volksfront immer wieder der Name Edgar Savisaar genannt, einer der prägenden Figuren der estnischen Unabhängigkeitsbewegung. Savisaar trieb die Ausführung der Idee nun aktiv voran. 

Die organisatorischen Probleme schienen indes unüberwindbar zu sein. Schlechtes Wetter allein drohte alles zunichte zu machen. Würden überhaupt genug Menschen kommen? Wie sollte man die Bereitwilligen transportieren, es gab ja noch keine universelle private Mobilität, die ja auch nur zu noch mehr Staus geführt hätte? Wie sollte man sich auf medizinische Notfälle vorbereiten, wie die Ordnung garantieren? Es gab in allen drei Ländern mahnende Stimmen, die den Plan für undurchführbar hielten und das Risiko des Scheiterns für zu groß. Erst Anfang August, so scheint es, waren alle Zweifel ausgeräumt. Es blieben drei Wochen Zeit.

Nun wurden die regionalen Organisationen der Volksfronten mobilisiert. Jede von ihnen sollte einen bestimmten Abschnitt der Strecke übernehmen. Dabei machte sich auch die streng vertikale Hierarchie der drei Sowjetrepubliken bemerkbar, denn es genügte, dass ein Minister den 23. August, einen Mittwoch, für arbeitsfrei erklärte, um zumindest dieses Hindernis aus dem Weg zu räumen. Mit jedem einzelnen privaten Betrieb verhandeln zu müssen, hätte den Zeitplan mit Sicherheit torpediert. 

Zudem konnte man sich der Kooperation der Miliz versichern. Ihr Einsatz war nicht nur aus Gründen der Sicherheit notwendig, sondern auch, weil ihre Einsatzfahrzeuge über Telefone verfügten, über die im Notfall zum Beispiel medizinische Hilfe herbeigerufen werden konnte. Fabriksleiter stellten (auf gut sowjetische Weise) nicht nur ihre Belegschaft für diese Demonstration zur Verfügung, sondern auch die notwendigen Busse. Drei Sowjetrepubliken mobilisierten mit Unterstützung der republikanischen Strukturen alle Kräfte für eine Machtdemonstration. Gegen Moskau. 

Jahrestag des Hitler-Stalin-Pakts

Für alle drei Volksfronten war die Bindung an den Jahrestag des Hitler-Stalin-Paktes wesentlich. Im neu gewählten Moskauer Volksdeputiertenkongress sollte eine Kommission über die historische Rolle des Paktes urteilen. Während die baltischen Delegierten darauf drängten, den Pakt möglichst bis zum 23. August zu verurteilen, mahlten die Mühlen des neuen Parlaments viel langsamer als erhofft. 
Am 18. August gab der Kommissionsleiter Alexander Jakowlew, ein einflussreicher und reformorientierter Berater Gorbatschows, der Prawda ein Interview. Dabei stellte er fest, dass der Pakt für die sowjetische Führung 1939 alternativlos gewesen sei. Er bestätigte zwar die Existenz der Geheimen Zusatzprotokolle, was an sich schon eine Sensation war, und verurteilte sie auch; allerdings bestritt er jeglichen Zusammenhang mit der Annexion der baltischen Staaten im Jahr darauf. Die Enttäuschung in den baltischen Republiken, deren Parlamente den Pakt schon verurteilt hatten, war spürbar. 

Innenpolitischer Druck

Innenpolitisch spitzte sich im Sommer 1989 die Lage zu. In Estland zum Beispiel zählte auch die sogenannte Interfront zu den Gegnern der Volksfront. Sie bestand in erster Linie aus russischsprachigen Arbeitern und Angestellten der Industriebetriebe, die Moskauer Ministerien unterstellt waren, und wurde zum Sprachrohr des „internationalistischen“ und pro-sowjetischen Teils der Bevölkerung. 
Im Sommer wurde neben symbolischen de-sowjetisierenden Aktionen wie der offiziellen Nutzung der alten Trikolore unter anderem ein Wahlgesetz für die anstehenden Wahlen zum Obersten Sowjet der Republik diskutiert. Erstmals in der sowjetischen Geschichte sah dieser Entwurf vor, das aktive und passive Wahlrecht an bestimmte Aufenthaltszeiten auf dem Boden der Republik zu knüpfen. Um ihren Forderungen Nachdruck zu verschaffen, organisierte die Interfront Anfang August recht erfolgreich einen landesweiten Streik. Sowohl die innersowjetische Debatte um den Pakt als auch der Industriearbeiterstreik mobilisierten die Bevölkerung zusätzlich. 

Rund 1480 Menschen pro Kilometer

Wie viele Menschen am 23. August 1989 zusammenkamen, um gegen 19 Uhr Tallinn, Riga und Vilnius zu verbinden, ist kaum zu schätzen. Man hat ausgerechnet, dass bei einer Zahl von 1 Million durchschnittlich 1480 Menschen jeden Kilometer bevölkert haben. Manche Schätzungen gehen aber sogar von bis zu zweieinhalb Millionen aus.1 Vor allem in den Städten stand man in bis zu sieben Reihen hintereinander. Mancherorts bildeten sich „Solidaritätsketten“ von Menschen, die wegen der Staus nicht rechtzeitig zur Strecke gelangt waren. Schon am Nachmittag waren die großen Ausfallstraßen der Städte komplett überfüllt gewesen, obwohl an einigen Stellen sogar alle Spuren für eine Richtung geöffnet waren. Allerdings gab es auch entlegene Abschnitte, wo die Kette abriss und die Lücken durch Kerzen oder schwarze Bänder überbrückt werden mussten.

Als die Sozialwissenschaftlerin Marju Lauristin von der estnischen Volksfront um 19 Uhr vom Langen Hermann, einem altem Burgturm auf dem Tallinner Domberg, über das Radio erklärte: „Unser Ziel ist Freiheit“, war der Sinn der Aktion deutlich benannt. Die Reaktion aus Moskau war überraschend drastisch. Am 26. August hieß es, die Veranstalter hätten eine „nationalistische Hysterie“ entfacht und sich gegen die sowjetische Ordnung gestellt. Sollten ihre Ziele durchgesetzt werden, drohte Moskau den baltischen Völkern „katastrophale Folgen“ an und stellte deren „Lebensfähigkeit“ in Frage.2   

Die Folgen

Die Lage in den baltischen Sowjetrepubliken veränderte sich durch diese Aktion genauso wenig wie das Verhältnis zu Moskau. Auch die Verurteilung des Hitler-Stalin-Paktes durch den Volksdeputiertenkongress Ende 1989 hatte keine Folgen. Es bedurfte eines historischen Zufalls, des Moskauer Putsches vom August 1991, dass die drei Staaten ihre Unabhängigkeit friedlich wiederherstellen konnten. Unschätzbar aber dürfte der Sympathiebonus gewesen sein, den sich die drei Länder am 23. August 1989 vor allem im Westen verdient haben. Umso stärker wurde der Druck auf die Regierungen, als im Januar 1991 auf den Straßen von Vilnius und Riga sowjetische Organe Gewalt gegen friedliche Demonstranten ausübten.   

Die Menschenkette vom 23. August 1989 ist mittlerweile in die UNESCO-Liste des Weltkulturerbes der Menschheit aufgenommen worden. Sie war ein nahezu perfekter Akt des gewaltlosen Widerstands und hat Menschen in vielen anderen Ländern zur Nachahmung inspiriert, darunter zum Beispiel in Katalonien. Dass an diesem Tag keine ernsthafte Provokation von sowjetischer Seite erfolgte, lag nicht zuletzt daran, dass westliche Journalisten von den Organisatoren extra angefordert worden waren, um zu berichten. So waren am nächsten Tag die Bilder der Fahnen, Kerzen und Menschen in vielen großen westlichen Tageszeitungen der Aufmacher. Die Menschenkette war eben auch ein extrem wertvoller Schachzug im Spiel um mediale Aufmerksamkeit.


Zum Weiterlesen:
Arjakas, Küllo (2014): Kui väikesed olid suured: Balti Kett 25 [Als die Kleinen die Großen waren: 25 Jahre Baltische Kette], Tallinn
Brüggemann, Karsten (2016): Menschenkette durch das Baltikum, in: Horch und Guck: Zeitschrift der Gedenkstätte Museum in der Runden Ecke Leipzig 25 (2016), Heft 1–2 (82–83), S. 43–47
Koik, Lembit (2004): Balti Kett [Baltische Kette], Tallinn
Spohr-Readman, Kristina (2006): Between Political Rhetoric and ‚Realpolitik‘ Calculations: Western Diplomacy and the Baltic Independence in the Cold War Endgame, in: Cold War History 6 (2006), Nr. 1, S. 1–42
Youtube: Balti Tee Balti kett 1989

1.Arjakas, Küllo (2014): Kui väikesed olid suured: Balti Kett 25, Tallinn, S. 119 
2.ebd. S. 156-157 
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