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Russland und der Kolonialismus

Kolonialimperien – das sind immer die anderen. Und doch hat Russland über eine Vielzahl an Völkern geherrscht und sein Territorium seit dem 16. Jahrhundert auf das 22-Fache vergrößert. Von der Eroberung Sibiriens bis zur angeblichen „Brüderlichkeit der Sowjetvölker“ wird die Kontinuität des russischen Kolonialismus im Krieg gegen die Ukraine besonders deutlich. Die vor diesem Hintergrund erstarkende Idee einer Dekolonisierung Russlands versucht der Kreml mit allen Mitteln zu unterdrücken. 

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Olga Skabejewa

Zweimal täglich erklärt die Moderatorin im Staatsfernsehen die Welt aus Moskauer Sicht. An manchen Tagen ist sie bis zu fünf Stunden mit Desinformation und Kriegshetze nach Vorgaben des Kreml auf Sendung. Skabejewas Spezialgebiet ist der Vollkontakt: Je nach Bedarf werden Gegner provoziert oder niedergebrüllt. 

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Margarita Simonjan

Ihre steile Karriere begann mit einer Lüge im staatlichen Auftrag. Heute kokettiert die Chefin des Propaganda-Senders RT und der staatlichen Medienholding Rossija Sewodnja offen mit ihrer Rolle als Gesicht der russischen Desinformation. Der Kreml belohnt sie großzügig dafür. 

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Die Krim – ein jüdischer Sehnsuchtsort

„Auf dem Weg nach Sewastopol, nicht weit vor Simferopol, gibt es eine Haltestelle. Warum suchst du dein Glück anderswo?“ So fängt ein berühmtes jiddisches Lied an, komponiert in den 1930er Jahren in der Sowjetunion. Der im Lied besungene Ort heißt Dshankoi – heute eine mittelgroße Verwaltungsstadt im Norden der Halbinsel Krim. Auch wenn der Name Dshankoi krimtatarischen Ursprungs ist und wahrscheinlich schlicht „neues Dorf“ bedeutet, entstanden um die Siedlung herum auch jüdische Ansiedlungen. Denn die Krim war nicht nur Russen, Krimtataren, Ukrainern und anderen ein Sehnsuchtsort – im 20. Jahrhundert wurde sie auch für Juden auf der ganzen Welt zu einem Symbol. In den 1920er und 1930er Jahren entstanden im Norden der Halbinsel mehrere jüdische landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaften. Es gab jüdische Linke, die eine Ansiedlung auf der Krim der Ansiedlung in Palästina vorzogen. Manche träumten gar von einer Jüdischen Sozialistischen Sowjetrepublik auf der Halbinsel. Überlagert von der Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts existierte der jüdische Sehnsuchtsort jedoch nur weniger als zwei Jahrzehnte. 

1. Mai-Feierlichkeiten in der jüdischen landwirtschaflichen Siedlung Fraidorf auf der Krim, 1926 / Foto © Projet de l'ORT Saint-Pétersbourg, Quelle: Wikipedia (public domain)

Bis ins 20. Jahrhundert hinein lebte die Mehrheit der jüdischen Weltbevölkerung im Russischen Reich. Dort siedelte sie vornehmlich in städtischen Strukturen des heutigen Polens, der Ukraine, Moldawiens, Belarus' und des Baltikums – in einem Ansiedlungsgebiet, außerhalb dessen Juden das Niederlassen nur mit Sondergenehmigung erlaubt war. Dieses Gebiet war multikulturell geprägt und vor dem Ersten Weltkrieg entwickelten sich dort verschiedene Nationalbewegungen. Auch zahlreiche osteuropäische Juden begannen, sich als ethnische Minderheit zu verstehen und suchten nach einer Antwort auf Nationalismus und Antisemitismus. 

Krim oder Zion?

Mögliche Lösungen sahen die einen in der Erschaffung eines jüdischen Nationalstaats, die anderen in nationalen Autonomiekonzepten innerhalb eines osteuropäischen Vielvölkerstaates. Die einschneidenden politischen Veränderungen des Ersten Weltkrieges und des Revolutionsjahres 1917 ließen solche Pläne aber erst einmal in den Hintergrund treten. Denn schlagartig fanden sich viele Juden in dem neu entstandenen polnischen oder litauischen Nationalstaat wieder, ungefähr drei Millionen Juden wurden zu Bürgern der neu gegründeten Sowjetunion.

In den nun folgenden Bürgerkriegsjahren litt die Bevölkerung in Osteuropa unter den Folgen von Krieg, Hunger und staatlicher Zwangseintreibung. Zugleich fanden im Laufe des Bürgerkrieges antisemitische Pogrome statt, in denen zehntausende Juden getötet wurden – mehrheitlich von Anhängern der Weißen Bewegung. Wie bei jeder anderen zeitgenössischen Gesellschaftsgruppe fanden sich unter den Juden Unterstützer und Gegner der bolschewistischen Regierung. Doch die Pogrome führten dazu, dass sich viele von den Bolschewiki mehr Sicherheit versprachen. Die Hoffnung der Juden auf rechtliche Gleichbehandlung sowie die bolschewistische Agitation für gesellschaftliche Emanzipation und Gleichheit taten ein übriges, um in der jüdischen Bevölkerung die sowjetische Regierung als kleineres Übel wahrzunehmen. 

Die Konzepte jüdischer Nationalstaatlichkeit erhielten nach diesen turbulenten Jahren eine neue Aktualität. Sie waren innerhalb der sowjetischen Führung besonders umstritten, wurden aber verstärkt durch die sowjetische Politik der Korenisazija – der Idee, allen Völkern und Nationen den Kommunismus in ihrer eigenen Sprache und in ihren eigenen Territorien nahezubringen und zu diesem Zweck auch kleinere Völker zu fördern. So entsponn sich nach den Bürgerkriegsjahren unter jiddisch-sprachigen Linken eine hitzige Debatte über jüdische Ansiedlungsprojekte, die zugleich einem politischen Bekenntnis glich. Eine der damals debattierten Fragen lautete: Krim oder Zion? „Zion“ stand für das Konzept eines hebräisch-sprachigen jüdischen Nationalstaats im damaligen Mandatsgebiet Palästina, dem heutigen Israel. Mit dem ersten Zionistenkongress 1897 in Basel und der Balfour-Deklaration 1917 hatte die Idee der Migration in das für die jüdische Bevölkerung Heilige Land Eretz Israel auch in Osteuropa zahlreiche Anhänger gefunden. „Krim“ stand dagegen für jiddischsprachige landwirtschaftliche Ansiedlungsprojekte im Südwesten der Sowjetunion. Dort sollten zahlreiche, von kommunistisch gesinnten Juden getragene Genossenschaftsprojekte entstehen. Theoretisch auch für Juden offen, die nicht in der Sowjetunion lebten.

Transnationale Debatten

Doch das Thema der jüdischen Ansiedlung in der Sowjetunion vereinte nicht nur. Innerhalb der Sowjetunion und in den jüdischen Gemeinschaften von Berlin bis New York wurde mitunter erbittert über den Plan diskutiert und auch um finanzielle Unterstützung geworben. Auch wenn sich die Ansiedlungspläne nur auf einen Bruchteil der jüdischen Bevölkerung der Sowjetunion bezogen, hatte das Projekt dennoch eine herausragende Bedeutung: Es entstand eine besondere Dreiecksbeziehung zwischen den Juden, die in den Genossenschaftsprojekten lebten, dem sowjetischen Staat und jüdischen Hilfsorganisationen. Letztere unterstützten finanziell die landwirtschaftliche Ansiedlung. 

Hieraus entstand eine komplizierte Gemengelage, in der es unterschiedliche Unterstützungsgründe gab: Für Juden in der Sowjetunion konnte es schlicht als möglicher Ausweg vor Hunger und Armut erscheinen, in den Genossenschaftsprojekten zu leben und zu arbeiten. Jüdische Hilfsorganisationen unterstützten die Projekte vornehmlich aus philanthropischen Gründen. Dagegen hofften linke Anhänger jüdischer Autonomiekonzepte, dass langfristig im Südwesten der Sowjetunion ein Autonomes Jüdisches Gebiet, eine Jüdische Sozialistische Sowjetrepublik, entstehen würde. Überzeugte Kommunisten verstanden die landwirtschaftlichen Genossenschaften als einen wichtigen Beitrag zum Aufbau der Sowjetunion. Viele verbanden mit der Ansiedlung auch die Hoffnung, die stereotype antisemitische Einstellungen der Mehrheitsbevölkerung herauszufordern: Indem die jüdische Bevölkerung nun im Agrarsektor arbeitete und damit sichtbar zur Produktivität des Landes beitrug, hoffte man, dass der Rest der Bevölkerung sie als gleichwertige sowjetische Bürger anerkennen würde. Die Gegner der Ansiedlung hoben dagegen die schlechte politische und ökonomische Situation in der Sowjetunion hervor. Ferner warfen sie der sowjetischen Regierung vor, dass sie die landwirtschaftliche Ansiedlung nur aufgrund der zu erwartenden finanziellen Unterstützung aus dem Ausland duldete.

Tatsächlich stand die Sowjetunion in jener Zeit wirtschaftspolitisch unter enormem Druck – während die Bolschewiki gleichzeitig versuchten, die Gesellschaft nach ihren Vorstellungen umzugestalten. Die Steigerung der landwirtschaftlichen Produktivität durch Gründung neuer Produktionsgenossenschaften erschien hierbei naheliegend. Offizielles Ziel der sowjetischen Regierung war es, mehr als 100.000 Juden in dörflichen Strukturen auf dem weitläufigen Gebiet der Krim, der Ukraine und in Belarus anzusiedeln. Die überwiegende Mehrheit der hierfür notwendigen Finanzen, die für landwirtschaftliche Arbeitsgeräte und zu errichtende Infrastruktur benötigt wurden, sollte von internationalen jüdischen Hilfsorganisationen erbracht werden. Allein auf der Krim entstanden bis Mitte der 1930er Jahre mehr als 80 landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaften, in denen knapp 20.000 Jüdinnen und Juden lebten und arbeiteten. Fraidorf (seit 1931) und Larindorf (seit 1935) wurden zu Autonomen Jüdischen Bezirken im Norden der Halbinsel. Drei weitere existierten in der Ukrainischen Sowjetrepublik. In den Bezirken lebte eine mehrheitlich jüdische Bevölkerung. Sie waren unterteilt in kleinere Dorfstrukturen, in denen in Produktionsgenossenschaften landwirtschaftliche Güter angebaut wurden. 

Sehnsuchtsort Krim

In den 1920er und 1930er Jahren war die Krim ein jüdischer Sehnsuchtsort. Neben Russisch wurde in den Dörfern Jiddisch gesprochen und gelesen, die gängige Sprache von Juden in Osteuropa. Es wurden in den Siedlungen gemeinsame Feste gefeiert, Traditionen gelebt und jiddisch-sprachige Bildungs-, Schul- und Kultureinrichtungen geschaffen.

Die landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften können als eine sowjetische Antwort auf die zionistische Bewegung verstanden werden, um den Auswanderungswilligen eine Perspektive innerhalb des eigenen Landes zu bieten. Entsprechend wurden sie auch propagandistisch begleitet. In vielem unterschied sich die Realität aber von den sowjetischen Wunschvorstellungen. Zwar wurden einerseits sowjetische Bauern par excellence ausgebildet. Andererseits gab es auf dem Dorf mehr Freiräume und Handlungsoptionen als in der Stadt. Nach jüdischem Brauch wurde der Samstag zum Ruhetag bestimmt. Trotz offiziellem Verbot der Religion war es möglich, religiöse Praktiken im privaten und halböffentlichen Rahmen zu verrichten. Die Mehrheit der nun auf dem Land angesiedelten Juden kam ursprünglich aus Städten und erlernte die landwirtschaftliche Produktion erst vor Ort. Viele vermissten die kulturellen Möglichkeiten der Stadt, weswegen 1927 im Gebiet um Dshankoi fahrende Bibliotheken mit russischen und jiddischen Büchern eingesetzt wurden. Vor allen Dingen mussten sich die Städter aber an die schwere landwirtschaftliche Arbeit gewöhnen.

Ein jüdischer Hirte auf einem Genossenschaftsprojekt auf der Krim, zwischen 1930 und 1940. / Foto © Photo 12/Ann Ronan Picture Library/imago images

Dies taten sie offenbar erfolgreich, denn in den Dörfern wurden vergleichsweise hohe landwirtschaftliche Erträge erzielt. Sicherlich ein wichtiger Grund dafür, dass die jüdischen Genossenschaftsprojekte die Zeit der Neuen Ökonomischen Politik und der Zwangskollektivierung verhältnismäßig gut überstanden. Erklärt werden kann dies auch mit der finanziellen Unterstützung aus dem Ausland, die den Erwerb neuerer Gerätschaften ermöglichte. Ebenfalls waren die jüdischen Bauern durch ihre Unerfahrenheit offen für neue Erkenntnisse des effektiveren Anbaus in der Landwirtschaft. 

Ende des Ansiedlungsprojektes

Doch der jüdische Sehnsuchtsort Krim war nur von kurzer Dauer. Ein klares Bekenntnis der sowjetischen Regierung für die Ansiedlungsprojekte im Südwesten der Sowjetunion blieb aus. Stattdessen wurde in der ersten Hälfte der 1930er Jahre mit Birobidshan ein anderer Bezirk zu einem jüdischen Ansiedlungsprojekt proklamiert. Das Gebiet mit der gleichnamigen Hauptstadt lag im Fernen Osten des Landes. Jüdisches Leben musste dort von Grund auf neu errichtet werden, weil die Region tausende Kilometer entfernt war von den bisherigen Lebenswelten der jüdischen Bevölkerung. Hinzu kamen schwierige klimatische Bedingungen vor Ort. Trotz einzelner Enthusiasten, die dorthin zogen, war das Konzept des Jüdischen Autonomen Bezirks Birobidshan von Beginn an zum Scheitern verurteilt. 

In den 1940er Jahren sollte es die auf der Krim lebenden Juden aber weitaus schlimmer treffen. Die europäische Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts machte auch vor ihnen nicht halt. Der Stalinistische Terror in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre traf sie noch vergleichsweise milde. Viel schlimmer verlief die Zeit der nationalsozialistischen Okkupation auf der Krim. Die jüdische Bevölkerung wurde gezielt getötet und die landwirtschaftlichen Produktionsgemeinschaften vernichtet. 

Nach der Befreiung der Halbinsel durch die Rote Armee kehrten einige rechtzeitig evakuierte Juden zurück. Doch die unter anderem vom Jüdischen Antifaschistischen Komitee nach dem Krieg vorgetragene Idee, das Ansiedlungsprojekt wiederzubeleben, schlug fehl. Die politische Stimmung in der Sowjetunion hatte sich stark verändert. Viele Mitglieder des Jüdischen Antifaschistischen Komitees wurden Ende der 1940er Jahre in der Sowjetunion als Verschwörer angeklagt und am 12. August 1952, wenige Monate vor dem Tod Stalins, erschossen. Das jüdische Ansiedlungsprojekt lebt seitdem nur noch in der Folklore fort: 

Juden, sagt mir,
wo ist mein Bruder Abrascha?
Der fährt seinen Traktor, lenkt wie einen Zug!
Tante Leah ist am Mähen,
Bella an der Dreschmaschine
in Dshankoi, dshan, dshan, dshan...

 
Zum Weiterlesen:
Dekel-Chen, Jonathan: Crimea, in: The YIVO Encyclopedia of Jews in Eastern Europe
Dekel-Chen, Jonathan (2005): Farming the Red Land: Jewish Agricultural Colonization and Local Soviet Power, 1924–1941, New Haven/ London
Dekel-Chen, Jonathan (2003): Farmers, Philanthropists, and Soviet Authority: Rural Crimea and Southern Ukraine, 1923–1941, in: Kritika: Explorations in Russian and Eurasian History, Vol. 4 (2003), Nr. 4., S. 849–885
Veidlinger, Jeffrey (2014): Before Crimea Was an Ethnic Russian Stronghold, It Was a Potential Jewish Homeland
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