Alexandra Kollontai (1872–1952), Generalstochter aus wohlhabendem Haus, Berufsrevolutionärin und Vorkämpferin der Frauenemanzipation, Revolutionsteilnehmerin, Volkskommissarin für Sozialfürsorge in der ersten sowjetrussischen Regierung, scharfe Kritikerin des Friedens von Brest-Litowsk, Leiterin der Frauenabteilung im Zentralkomitee (ZK) der RKP(b), Mitglied der „Arbeiteropposition“, welterste Diplomatin und außerdem Literatin – nach eigener Einschätzung hat sie „nicht nur ein, sondern viele Leben gelebt“.1
Früh zeigte sich ihr starkes Verlangen nach Selbstbestimmung, im Privaten wie auf der politischen Bühne. Legendär bereits zu Lebzeiten, faszinierte sie viele Menschen mit bemerkenswerter Schönheit, eleganter Kleidung und temperamentvollem Auftreten, hat Köpfe verdreht, Herzen entflammt, aber auch für Klatsch und Empörung gesorgt.
Viele ihrer politischen Positionen wurden kontrovers diskutiert, ja bewusst verzerrt, lächerlich gemacht und schließlich geächtet. Bis in die Gegenwart sind ihre Schriften nicht gefeit vor Vereinnahmung und einseitiger Rezeption.
Kein Leben im Käfig
Ein großer Drang, der elterlichen Überbehütung zu entkommen, trieb die erst 21-jährige Alexandra Domontowitsch in eine nicht standesgemäße Ehe mit einem Vetter, dem mittellosen Ingenieur Wladimir Kollontai. Trotz aller Liebe empfand sie nach kurzer Zeit das konventionelle Dasein einer Hausfrau und Mutter als bedrückenden Käfig und verließ Mann und Sohn, um fortan eigene, autonome Wege zu gehen. Diese führten sie wie so viele junge Frauen aus dem Russischen Reich zunächst zum Studium nach Zürich. Doch nicht die Wissenschaft wurde ihr Lebenselixier, sondern die europäische sozialistische Bewegung, deren führende Vertreter sie in der Schweiz kennengelernt hatte. Diese Verbindung erwies sich als dauerhaft – einen ebenbürtigen Partner für eine langjährig erfüllende Liebesbeziehung hingegen hat sie nie gefunden – als ökonomisch und geistig unabhängige „neue Frau“ traf sie meist Männer vom alten Schlage.2
Berufsrevolutionärin in eigener Sache
Eines ihrer vielen Leben führte Kollontai bereits vor der Jahrhundertwende in die russische Sozialdemokratie (RSDRP), während ihres Exils in Westeuropa (1908–1917) außerdem in die SPD und zu den französischen Sozialisten. Ausgestattet mit einem ausgeprägten Selbstbewusstsein, großem Kommunikationstalent und ausgezeichneter Kenntnis von fünf Fremdsprachen, wirkte sie ebenso leidenschaftlich wie unermüdlich als Autorin, Publizistin, Rednerin und Organisatorin. Dabei ließ sie sich von den Ideen des „Vaters des russischen Marxismus“, Georgi Plechanow, inspirieren, aber auch von Persönlichkeiten wie dem Schriftsteller Maxim Gorki. Viele Denkanstöße lieferten ihr auch die Lafargues in Frankreich, die Webbs in England sowie die führenden deutschen Sozialisten.
1903 entstand ihre erste eigene grundlegende Untersuchung über die finnische Arbeiterschaft, bis sie – stark beeinflusst durch Bebels Grundlagenwerk Die Frau und der Sozialismus (1879) und die Organisationserfolge von Clara Zetkin unter deutschen proletarischen Frauen – die „Frauenfrage“ als ihr eigenes Haupt- und Lebensthema entdeckte.
Theoretikerin und Praktikerin der Frauenbefreiung
Kollontai selbst bewertete rückblickend den Kampf für die Befreiung der Frauen als „wertvollsten Beitrag“ ihrer sechs Jahrzehnte umfassenden politischen Tätigkeit3 – dabei hatte das, was die Sowjetunion unter Stalin als „vollendete Emanzipation“ ausgab, mit ihren visionären Vorstellungen von Frauenbefreiung kaum etwas gemein. Da es nie eine Gesamtausgabe ihrer wichtigsten politischen Schriften gab, sind manche Werke heute nur noch mit Mühe aufzutreiben. Einige Titel, darunter auch das belletristische Werk, wurden in den 1970er Jahren durch die Neue Frauenbewegung der BRD wiederentdeckt und in deutscher Sprache publiziert.4
Für Kollontai war die Befreiung der Frauen keine unvermeidliche Folge der Revolution und erschöpfte sich mitnichten in ökonomischer Teilhabe und rechtlich-sozialer Gleichstellung. Vielmehr sollte die sozialistische Gesellschaft einen neuen Typ von Frau hervorbringen, der auf Grund der eigenen inneren und äußeren Unabhängigkeit qualitativ neuartige Beziehungen zum anderen Geschlecht anstrebte. In der Mutterschaft sah Kollontai zwar eine wichtige soziale Funktion, aber ebenfalls nicht den Kern weiblichen Daseins. Dieser war vielmehr: „die soziale Idee, die Wissenschaft, der Beruf, das Schaffen“.5 Ein solches Selbstverständnis verlangte den Frauen eine gewaltige psychische Leistung ab, nämlich das Loslassen alles „Weibchenhaften“.6 Aber auch die Männer sollten unter diametral veränderten Bedingungen nicht dieselben („alten Iwans“) bleiben.
Die russischen Bäuerinnen konnten mit solch utopischen Zukunftsentwürfen wenig anfangen und lehnten sie ab. Das männliche Parteiestablishment war der Propaganda für die Revolutionierung der menschlichen Beziehungen auch bald überdrüssig – es lebte sich als Mann ja ganz gut mit überkommenen Beziehungsformen. Frühsowjetische Ideen von der Vergesellschaftung der Hausarbeit und Kindererziehung fanden ebenso wenig Widerhall in der Bevölkerung, die Debatten über die Revolutionierung des Alltagslebens (byt) verstummten noch in den 1920er Jahren. Kollontai setzte sich auch für freie Liebe und Sexualität ein, doch bald wurden solche Ideale durch eine konservative Sexualmoral und die Stärkung der Familie als Institution abgelöst.
Vertriebene oder erfolgreiche Diplomatin
Die Jahre 1922 bis 1945 verbrachte Alexandra Kollontai als sowjetische Diplomatin in Norwegen (1922–1926, 1927–1930), Mexiko (1926/27) und vor allem in Schweden (1930–1945). Die feministisch orientierte Historiographie bewertete ihre Diplomatentätigkeit als unfreiwilliges Exil oder Strafversetzung. Dabei ging der Wunsch, fortan im Ausland zu wirken, von Kollontai selbst aus. Ihre (zweite) Ehe mit Pawel Dybenko war gescheitert, ebenso der Versuch, im Rahmen der Arbeiteropposition eine echte proletarische Demokratie gegen den Führungsanspruch der Partei zu verteidigen und sich für innerparteiliche Kritik stark zu machen. Nach all diesen quälenden Niederlagen wollte sie Abstand gewinnen, sich neu orientieren und bat deshalb Stalin, damals Generalsekretär der Kommunistischen Partei, um eine Aufgabe im Ausland, etwa als Korrespondentin. Stattdessen wurde sie Legationsrätin an der sowjetischen Handelsvertretung in Norwegen, später Leiterin der Bevollmächtigten Vertretung. Die längste Zeit ihrer diplomatischen Laufbahn verbrachte sie als sowjetische Gesandte in Schweden – seit 1943 im Rang einer Botschafterin und Doyenne des diplomatischen Corps.
In ihren letzten Lebensjahren als Beraterin des Volkskommissariats für Auswärtige Angelegenheiten blieben ihr der Botschaftertitel und eine sehr auskömmliche Versorgung erhalten. Bis kurz vor ihrem Tod bearbeitete, das heißt bereinigte sie ihre Memoiren, auf deren Erscheinen sie (vergeblich) hoffte. Auch zu ihrem 100. Geburtstag 1972 gab es noch keine Veröffentlichung.7 Das Jubiläumsjahr war der politischen Führung lediglich eine Briefmarke wert. Doch 1969 kam ein Spielfilm über ihre diplomatische Tätigkeit ins Kino, der später wegen seiner Popularität auch im TV lief.8
Alexandra Kollontai, deren Leben schon lange von schwerer Krankheit und zunehmender Vereinsamung getrübt war, verstarb am 9. März 1952 in Moskau. Obwohl international geachtet und hochdekoriert, versagte ihr die Prawda einen Nachruf. Das Ausland dagegen reagierte mit Etikette und Anstand auf ihren Tod. Schließlich konnte sie einige maßgebliche Erfolge vorweisen. Die Vermittlertätigkeit bei den sowjetisch-finnischen Friedensschlüssen 1940 und 1944 hatte ihr sogar die zweimalige Nominierung für den Friedensnobelpreis eingetragen.
Kollontais größte Leistung aber war die vorbildlose Selbstbehauptung in einer klassischen Männerdomäne sowie ihr geschicktes Mitwirken an der Ausgestaltung der frühen sowjetischen Diplomatie – ohne jede Kenntnis diplomatischer Gepflogenheiten, dafür aber mit einem gewissen Eigensinn. Ihre adlige Erziehung, umfassende Bildung, Fremdsprachenkenntnisse, Gewandtheit, Diskretion und zugleich Kontaktfreudigkeit im Umgang mit Menschen glichen die fehlende diplomatische Ausbildung spielend aus. Als Diplomatin ging sie häufig bis an die Grenzen ihrer Gestaltungsspielräume und gelegentlich sogar darüber hinaus. Natürlich machte ihr die immer weitere Beschneidung zu schaffen, sie litt unter der ständigen Bespitzelung durch den NKWD. Mit Beginn des Großen Terrors musste sie gar um ihr Leben fürchten. Die meisten alten Kampfgefährten, insbesondere Diplomaten, fielen ihm zum Opfer.
Loyale Überlebende
Ob sie nur deshalb lebend davonkam, weil Stalin, dem sie in persönlichen Briefen sowie in ihren Aufzeichnungen eindrucksvoll zu schmeicheln wusste, seine Hand über sie hielt oder vielmehr weil sie, wie der spätere Außenminister Molotow meinte, ihnen nicht geschadet habe9, muss offen bleiben. Jedenfalls ertrug Kollontai die Ermordung zweier ihrer früheren Partner (Alexander Schljapnikow, Pawel Dybenko) in stoischer Trauer, wohl auch geplagt von nagenden Zweifeln. Doch wie so viele Davongekommene ihrer Generation fand sie nicht die Kraft, sich von dem Regime Stalins loszusagen, sondern hielt ihm bis zu ihrem Lebensende allem Anschein nach die Treue.