Im Frühjahr 1922 findet in Genua eine Konferenz statt: Insgesamt 34 Staaten beraten darüber, wie das internationale Wirtschaftssystem nach dem Schock des Ersten Weltkrieges neu aufgestellt werden könnte. Auch die beiden Parias der Versailler Friedensordnung – Deutschland und Sowjetrussland – gehören zu den Teilnehmern. Am 16. April kommen am Rande der Konferenz die Delegationen beider Länder in Rapallo, einem Kurort nahe Genua zusammen. Das Abkommen, das sie unterzeichnen, wird von Zeitgenossen als Sensation aufgefasst – es soll die europäische Geschichte des 20. Jahrhunderts entscheidend beeinflussen. Als Vertrag von Rapallo geht es in die Geschichte ein und wird zu einem wichtigen Teil jenes deutsch-sowjetischen „Sonderwegs“, der 1939 zur gewaltsamen Aufteilung Ostmitteleuropas beitrug – und dessen Auswirkungen bis in unsere Gegenwart reichen:
„Rapallo“ stand und steht für die Sorge vor einer zu engen Bindung Deutschlands an die Sowjetunion beziehungsweise Russland, die zu Lasten der anderen europäischen Staaten geht. Befürworter des Vertrags sahen in ihm hingegen ein Modell für die friedliche Koexistenz konkurrierender Gesellschaftssysteme.
Sowjetrussland und Deutschland gehörten auch vier Jahre nach dem Ende des Ersten Weltkrieges zu den Außenseitern der internationalen Ordnung. Während Deutschland aufgrund seiner von den Siegermächten zugeschriebenen Verantwortung für den Ausbruch des Krieges weitgehend isoliert war, galt die Moskauer Sowjetregierung nach Revolutionen und Bürgerkrieg lange Zeit als inakzeptabler Verhandlungspartner. Beide Staaten litten insbesondere unter Wirtschaftssanktionen, Handelsembargos – und im deutschen Fall besonders dramatisch – den Reparationsforderungen, die im Vertrag von Versailles festgelegt worden waren.
In Genua hofften beide Staaten, bei den anderen europäischen Regierungen Verständnis für ihre Situation und ihre Forderungen zu finden.
Doch sowohl die deutsche als auch die sowjetrussische Delegation mussten feststellen, dass sie mit ihren Forderungen kaum durchdrangen: Weder waren die Sieger des Ersten Weltkriegs bereit, den Deutschen einen Teil der Reparationszahlungen zu erlassen, noch konnten die sowjetischen Diplomaten darauf hoffen, dass die Schulden des Zarenreichs gestrichen würden.
In dieser Situation unterzeichneten die beiden Außenminister Georgi Tschitscherin und Walther Rathenau ein bilaterales Abkommen. Die meisten Punkte der Übereinkunft, die nur sechs Artikel umfasste, waren unspektakulär: Beide Staaten vereinbarten die Aufnahme diplomatischer Beziehungen, räumten einander das Meistbegünstigungsrecht in Handelsfragen ein und erleichterten deutschen Unternehmen Investitionen in Sowjetrussland. Dabei erklärten die Vertragspartner eher vage, sie würden „den wirtschaftlichen Bedürfnissen der beiden Länder in wohlwollendem Geiste wechselseitig entgegenkommen“. Zudem erklärten sie den wechselseitigen Verzicht auf Reparationen oder die Begleichung sonstiger Kriegskosten oder -schulden.1
Der Geist von Rapallo
Die eigentliche Bedeutung des Vertrags lag indes nicht in seinen konkreten Bestimmungen, sondern sie bestand in der Kooperation zweier Staaten, die – wenn auch aus unterschiedlichen Gründen – die europäische Nachkriegsordnung ablehnten. Er bildete einen integralen Bestandteil der gegen den Versailler Vertrag gerichteten deutschen Revisionspolitik sowie der sowjetischen Bündnispolitik nach dem Scheitern sozialistischer Revolutionen in anderen Ländern. Der Vertrag richtete sich deshalb wesentlich gegen die Architekten und Profiteure dieser Ordnung: also gegen Großbritannien und Frankreich, aber auch ganz besonders gegen Polen.2 Überall in Europa wurde diese Botschaft verstanden.
Bis heute hält sich hartnäckig das Gerücht, der Vertrag sei ohne größere Vorbereitung vereinbart worden und eine unmittelbare Reaktion auf den unbefriedigenden Konferenzverlauf gewesen. Und tatsächlich verging vom konkreten Vertragsangebot der sowjetrussischen Delegation bis zur Unterzeichnung nur eine schlaflose Nacht, in der die Deutschen in einem Hotelzimmer beisammensaßen und beratschlagten. Diese sogenannte „Pyjamakonferenz“ trug – zumindest in der deutschen Geschichtswissenschaft – erheblich zur Legendenbildung bei. Doch die Zusammenarbeit hatte sich seit langem angebahnt: Die Bolschewiki suchten bereits seit Jahren den Ausgleich mit Deutschland. Allerdings hatten sich die Rahmenbedingungen seit dem Friedensvertrag von Brest-Litwosk 1918 entscheidend gewandelt. Musste die Führung um Lenin damals erhebliche Konzessionen machen, um sich überhaupt an der Macht zu halten, kamen die Abgesandten Moskaus vier Jahre später als Sieger des russischen Bürgerkriegs nach Genua.
Rapallo – Vorgeschichte des Hitler-Stalin-Paktes?
Die Interessen beider Seiten ergänzten sich: Die sowjetrussische Seite benötigte ausländisches Kapital und Know-How für den wirtschaftlichen Wiederaufbau. Deutschlands Industrie war auf der Suche nach neuen Absatzmärkten und Rohstofflieferungen. Angesichts dieser offensichtlichen Komplementarität lag eine ökonomische Zusammenarbeit auf der Hand. Deutsche Unternehmen wie Krupp, Otto Wolff, die AEG, Siemens ließen sich daher die Gelegenheit nicht nehmen, mit dem „Klassenfeind“ zügig geschäftliche Beziehungen aufzubauen.3 Gebündelt wurden die ökonomischen Interessen im Russlandausschuss der Deutschen Wirtschaft, einer am Reichsverband der Deutschen Industrie angedockten Institution. Sie wurde nach 1945 im Ost-Ausschuss der Deutschen Wirtschaft wieder gegründet und übersetzte das Ziel der politischen Annäherung durch Handel maßgeblich in praktische Wirtschaftsbeziehungen.4
Hinzu kam die enge Kooperation auf militärischem Gebiet. Auch wenn dieses Thema im Vertrag von Rapallo nicht erwähnt wurde, so stand das Abkommen doch am Beginn einer intensiven Zusammenarbeit von Reichswehr und Roter Armee. In der Sowjetunion entstanden Testzentren der Luftwaffe, und es wurden Versuche mit Waffensystemen durchgeführt, die Deutschland nicht einmal besitzen durfte. Sowjetische Offiziere erhielten Zugang zum überlegenen strategischen und taktischen Wissen der Deutschen. Diese enge Zusammenarbeit war essentiell für das Aufrüstungsprogramm der Nationalsozialisten nach 1933, und sie trug zur Professionalisierung der Roten Armee bei.
Aus all diesen Gründen gehört der Vertrag von Rapallo zur Vorgeschichte des Hitler-Stalin-Pakts vom 23. August 1939. Doch es führt keine direkte Linie zu diesem „Teufelspakt“ mit dem die beiden Diktatoren Ostmitteleuropa unter sich aufteilten. Denn auch wenn Nationalsozialisten und Bolschewiki Todfeinde waren, so hatten sie doch gemeinsame Interessen, die zu Beginn des Zweiten Weltkriegs eine Kooperation für beide Seiten sinnvoll erscheinen ließen. Erst mit dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion im Juni 1941 endete die Zusammenarbeit der beiden Diktaturen.
Rapallo-Komplex und die „deutsche Frage“
Nach dem Zivilisationsbruch des Zweiten Weltkriegs und der deutschen Teilung blieb der „Rapallo-Komplex“ eine weithin verständliche Chiffre für eine mögliche Annäherung der Bundesrepublik an die Sowjetunion zu Lasten ihrer westlichen Bündnispartner. Dahinter stand die lange Zeit insbesondere in Großbritannien und Frankreich artikulierte Sorge, dass die Regierung in Bonn auf diese Weise versuchen könnte, sowjetische Zusagen zur Lösung der „deutschen Frage“ zu erhalten. Alle deutschen Bundeskanzler – von Konrad Adenauer bis Helmut Kohl – wurden mit diesem Problem konfrontiert und mussten öffentlich versichern, dass es für die Bundesrepublik keinen „Weg zurück nach Rapallo“ gibt.5
Angesichts der fortschreitenden europäischen Integration, der bundesdeutschen Mitgliedschaft in der NATO und insbesondere angesichts des KSZE-Prozesses, zu dessen Grundlagen die friedliche Koexistenz unterschiedlicher politischer Systeme gehörte, verlor „Rapallo“ langsam seinen unmittelbaren Aktualitätsbezug.6 Dies änderte sich jedoch Mitte der 1980er Jahre. Osteuropäische Intellektuelle wie Ágnes Heller und Ferenc Fehér artikulierten ihre Sorge vor einem „Osteuropa unter dem Schatten eines neuen Rapallo“. Denn, so befürchteten sie, der Preis für eine mögliche Wiedervereinigung Deutschlands bestehe in der dauerhaften Unterwerfung der Staaten Osteuropas unter sowjetische Dominanz.7
Zugleich gab es lagerübergreifende Versuche, Rapallo als „Modell für Europa“ zu rehabilitieren. In der Bundesrepublik und in der DDR fanden solche Überlegungen überall dort Anklang, wo die Sorge vor einem alles vernichtenden Atomkrieg besonders präsent war. Dem Verweis auf „Rapallo“ lag dabei die Vorstellung zugrunde, dass es allen Differenzen zum Trotz übergeordnete gemeinsame Interessen „zwischen Ost und West“ gäbe. In der Sowjetunion wurden angesichts der Abrüstungsgespräche mit den USA nun ebenfalls neue Töne angeschlagen: Nun gehe es nicht mehr um eine „Politik der Stärke, sondern um die Stärke der Politik“, erklärte etwa der sowjetische Journalist und Spitzenfunktionär Lew Tolkunow.8 Und der Historiker Alexander Tschubarjan beschrieb Rapallo als „Ausdruck des politischen Realismus“ und „Grundlage auch für die Beziehungen des Sowjetstaats mit anderen Ländern“.9 Aus einer anderen Perspektive priesen Wirtschaftshistoriker wie Manfred Pohl die „deutsch-sowjetischen Wirtschaftsbeziehungen zwischen den beiden Weltkriegen [als] ein Musterbeispiel für die Kooperation zwischen Staaten unterschiedlicher Gesellschaftsordnung. Das Deutsche Reich läßt sich hier als Vorreiter im modernen Ost-West-Handel darstellen“.10
Wiedervereinigung und deutsch-russische „Modernisierungspartnerschaft“
In Westeuropa und in den USA erlebte die Sorge vor einem neuen Rapallo in den Jahren 1989/90 eine Renaissance. Nun stand die Frage der deutschen Einheit auf der Tagesordnung und damit auch die gesamte europäische Sicherheits- und Bündnisarchitektur. Erneut wurde die Sorge laut, Deutschland würde die staatliche Einheit um den Preis der Bündnistreue erlangen wollen. Doch zur Überraschung aller erklärte die Sowjetunion sowohl ihr Einverständnis zur deutschen Wiedervereinigung als auch zur NATO-Mitgliedschaft der Bundesrepublik. Auch wenn der britische Economist das entscheidende Treffen zwischen Helmut Kohl und Michail Gorbatschow im Juli 1990 in Gorbatschows Heimatregion Stawropol als „Stawrapallo“ bezeichnete11, bestand das Ergebnis gerade nicht in einem deutsch-sowjetischen Sonderweg. Vielmehr schien Deutschland die letzte Etappe des „langen Wegs nach Westen“ anzutreten.12
Doch in der heutigen Rückschau müssen die deutsch-russischen Beziehungen der letzten 30 Jahre anders gewichtet werden: Zwar blieb Deutschland durch Mitgliedschaft in NATO, EU und in anderen supranationalen Organisationen fest „im Westen“ verankert. Gleichwohl wurde eine deutsch-russische „Modernisierungspartnerschaft“ integraler Bestandteil deutscher Ostpolitik in allen Bundesregierungen unter Kohl, Schröder und Merkel. Russland wiederum hofierte deutsche Unternehmen, deren Expertise und Kapital dringend für die Modernisierung der desolaten Wirtschaft benötigt wurde. Nord Stream 2 war nur das prominenteste Beispiel eines deutsch-russischen Sonderverhältnisses, das Deutschland in eine gefährliche Abhängigkeit von russischen Importen und russischem Einfluss besonders im Energiesektor brachte. Diese – insbesondere in Osteuropa misstrauisch beäugten und vielfach kritisierten – deutsch-russischen Beziehungen stehen in einem historischen Zusammenhang mit dem Vertrag von Rapallo.