Jekaterinburg, 17. Juli 1918. In den frühen Morgenstunden werden der ehemalige russische Zar Nikolaus II. und seine Familie unsanft geweckt, in den Keller ihres Arresthauses beordert und ohne Vorwarnung erschossen. Die Leichen werden in einem Waldstück verscharrt. Eineinhalb Jahre zuvor hatte Nikolaus im Zuge der Februarrevolution 1917 auf den Thron verzichtet. Nach dem Hausarrest in einem der kaiserlichen Schlösser außerhalb von Petrograd und einigen Monate im westsibirischen Tobolsk, wurde er mit seinen Angehörigen Ende April 1918 nach Jekaterinburg abtransportiert, die Stadt am Ural, in der örtliche Vertreter der Bolschewiki den Tod der letzten Zarenfamilie beschlossen.
St. Petersburg, 17. Juli 1998. In Anwesenheit des russischen Präsidenten werden die Gebeine Nikolaus´ und seiner Familie feierlich in der Peter-und-Pauls-Kirche beigesetzt. Zwei Jahre später erfolgt auch die Heiligsprechung der letzten Zarenfamilie als Märtyrer durch die Russisch-Orthodoxe Kirche. Diese Aufnahme in den Kanon der orthodoxen Heiligen macht den historischen Umgang mit Russlands letztem Kaiser nicht einfacher.
Als Nikolaus im Jahr 1894 nach dem plötzlichen Tod seines Vaters den Thron besteigen musste, übernahm er ein Riesenreich voller Gegensätze. Das Russische Reich war gewaltig und heterogen – die Herausforderungen an seinen Herrscher waren es auch. Der am 6. (18.) Mai 1868 geborene Nikolaus II. war erst 26 Jahre und fühlte sich von Anfang an nicht wohl bei seiner großen neuen Aufgabe.
Böses Vorzeichen
Wie eine Bestätigung schlimmer Ahnungen musste da die Katastrophe bei den Krönungsfeierlichkeiten 1896 wirken, die stets in Moskau begangen wurden. Im Zuge des traditionell die Festivitäten begleitenden Volksfestes kam es auf dem Chodynka-Feld am Stadtrand zu einem schweren Unglück. Die Ungeduld der Schaulustigen und erhebliche organisatorische Mängel führten zu einer Massendrängelei, an deren Ende fast 1400 Todesopfer zu beklagen waren – schnell sah man darin ein böses Vorzeichen für Nikolaus‘ kommende Herrschaft.
Im November 1894 hatte Nikolaj wenige Wochen nach der Thronbesteigung seine Verlobte, Prinzessin Alix von Hessen, geheiratet. Mit der scheuen, weltabgeschotteten Alix fand der neue Kaiser viele Gemeinsamkeiten, ob im Privat- und Hofleben oder in der Herrschaftsauffassung. Was beide einte, war auch die politische Visionslosigkeit, ja, die Unfähigkeit, den sozialen und politischen Herausforderungen des frühen 20. Jahrhunderts auf angemessene Weise zu begegnen.
Autokratie im Geiste des 17. Jahrhunderts
Dem Herrscherpaar schwebte eine Autokratie im Geiste des 17. Jahrhunderts vor, als der Herrscher mit dem Segen der Orthodoxen Kirche einen gottgefälligen Bund mit seinen Untertanen eingegangen war – so zumindest die Vorstellung. In der politischen Geschichte des Russischen Reiches war diese Haltung ein Rückschritt: Andere Romanow-Herrscher, vor allem Nikolaus´ Großvater Alexander II. hatten sich deutlich moderner gezeigt.
Nikolaus´ soziopolitische Vorstellungen trugen nicht mehr, denn die sich rasch verändernde russische Gesellschaft politisierte sich zusehends. Die zahlenmäßig kleinen Ober- und Mittelschichten wünschten sich bürgerliche Freiheiten und politische Partizipation, die Masse der Unterschichten vor allem bessere Lebens- und Arbeitsbedingungen. Während eines verlust- und belastungsreichen Krieges gegen Japan im Jahr 1905 kulminierte die gesellschaftliche Unzufriedenheit.
An einem Tag im Januar, der als Blutsonntag in die Geschichte einging, zogen Arbeiter vor den Winterpalast in St. Petersburg, um Nikolaus friedlich ihre Bitten und Forderungen zu präsentieren. Überforderte Wachtruppen schossen den Demonstrationszug auseinander und gaben damit unwillentlich die Startschüsse für die Revolution von 1905. Streiks und Demonstrationen brachen sich im ganzen Land Bahn, doch Nikolaus blieb uneinsichtig und ließ sich lediglich dazu herab, den unbotmäßigen Arbeitern „zu verzeihen“. Erst im Herbst 1905 gab er widerwillig seinen Beratern nach und kündigte eine Verfassung an, die im folgenden Frühjahr erlassen wurde.
Die russischen Grundgesetze von 1906 veränderten die politische Kultur des Landes. Von nun an hatte, sehr zum Verdruss Nikolaus´, ein Parlament beim Gesetzgebungsprozess mitzureden. Politische Parteien aller Couleur entstanden, über politische Fragen wurde wie nie zuvor in der Öffentlichkeit debattiert. Das neue Amt des Premierministers bekleidete mit Pjotr Stolypin ein ambitionierter und entschiedener Staatsmann. Mit Härte ging er gegen jegliche aufständischen Bestrebungen vor. Gleichzeitig versuchte er, Russland durch großangelegte Reformen zukunftsstark zu machen. Dass im Jahr 1911 ein Attentäter Nikolaus´ Regierungschef ermordete, verstärkte bei ihm die Überzeugung, dass Zugeständnisse an die Gesellschaft grundsätzlich nicht hilfreich seien.
Gottgesegnete Beziehung zwischen Herrscher und Untertanen
Nikolaus´ Vorstellungen von einer unmittelbaren, gottgesegneten Beziehung zwischen Selbstherrscher und Untertanen realisierten sich für ihn noch einmal bei der großen 300-Jahrfeier der Romanow-Dynastie 1913, wo der, oft wohlinszenierte, Jubel der bäuerlichen Bevölkerung ihm die Richtigkeit seines Denkens nahelegte. Auch im Sommer 1914, als Russland sich in jenen Krieg hineinziehen ließ, der sich zum Weltkrieg auswachsen sollte, glaubte der Kaiser in der patriotischen Begeisterung seines Volkes dessen wahre Haltung zur Autokratie zu erkennen. Gegenüber den Erwartungen seiner Gesellschaft, die gerne kräftig an Russlands Schicksal mitwirken wollte, hatte der Kaiser im Krieg wieder nur das alte Rezept parat: Weitgehende Abwehr jeder Partizipation und Konzentration auf die eigene Macht.
In diesem Zusammenhang hielt er es 1915 für seine selbstherrscherliche Pflicht, den Oberbefehl über die Truppen zu übernehmen. Er tat damit weder seinen Soldaten noch seinem Land etwas Gutes: Militärisch weitgehend talentfrei, fehlte mit seiner Abreise an die Front jene Figur in St. Petersburg, die das politische System zusammengehalten hatte. Dazu kamen noch die Gerüchte über eine deutsche Partei am Hof, die vor allem mit der Abstammung der Zarin Alexandra verbunden wurden.
Ende der Monarchie
Noch einmal zeigte sich das fehlende Gespür Nikolaus´, als der harte Winter 1916/17 den unteren Schichten lange nicht gekannte materielle Not brachte. Auf die sich schnell ausbreitenden Massenproteste seit Januar 1917 reagierte der Kaiser zunächst nicht. Es fiel ihm nur der Befehl zur Niederschlagung ein – doch da war es bereits zu spät. Der Autokratie war im Februar 1917 in St. Petersburg kaum noch jemand treu ergeben – zu sehr hatte eine jahrelange ignorante Politik das monarchische Herrschaftssystem und seine Dynastie diskreditiert. Am 2. März 1917 gab der Kaiser auf Anraten der Generalität dem Drängen der Parlamentsabgeordneten nach und unterzeichnete seine Abdankung, in die er zugleich seinen kranken Sohn Alexei miteinschloss. Der von Nikolaj als Nachfolger ausersehene Großfürst Michail hatte längst verstanden, was die Stunde geschlagen hatte, und abgewunken. Die Monarchie in Russland war zu Ende.
Im März 1917 gab es bis in höfische Kreise hinein nur wenige, die Nikolaus II. eine Träne nachweinten. Beachtliche Kreise der Bevölkerung hätten sich wohl durchaus eine Fortsetzung der Monarchie vorstellen können, jedoch mit stark eingeschränkten Kompetenzen und vor allem mit einer geeigneteren Persönlichkeit. Nikolaus wirkte gegenüber denjenigen, die ihn zu Gesicht bekamen, oft wie ein kultivierter, zurückhaltender Privatier, der im Familienleben Erfüllung fand und die Staatsgeschäfte eher als lästige Pflicht betrachtete. Freilich war er auch nicht bereit, andere mit der Führung ebenjener Geschäfte zu betrauen.
Goldenes Zeitalter und Glanz der Monarchie
Dass der letzte Kaiser in der Sowjetzeit in historiographische Ungnade fiel, verwundert nicht. Während man früheren Zaren seit den 1930er Jahren auch wieder positive Aspekte abgewinnen konnte, musste Nikolaus in der Rolle des Feindbildes verharren. Schließlich resultierten Oktoberrevolution und Sowjetstaat letztlich aus seinem Sturz. Was zu Sowjetzeiten verteufelt wurde, weckte nach 1991 grundsätzlich besonderes Interesse. Die sowjetischen Erzählungen über den blutrünstigen Ausbeuter Nikolaus wurden abgelöst von der Entdeckung des Opfers Nikolaus: Ein integrer, gläubiger Mensch, der, nachdem er im März 1917 den Weg für einen demokratischen Neuanfang freigemacht hatte, von den Bolschewiki ohne Not grausam ermordet wurde. Was für den letzten Zaren galt, ließ sich auch auf Russland vor der Revolution anwenden: Anstelle einer handlungsunfähigen, an ihr unausweichliches Ende gekommenen Staats- und Wirtschaftsform besaß das späte Zarenreich auf einmal Potential für ein verklärtes „goldenes Zeitalter“. Anstelle der sozialen Ungerechtigkeit und politischen Kämpfe rückten der Glanz der Monarchie, die aufstrebende Wirtschaft, die Kultur von Weltgeltung und der orthodoxe Glaube in den Betrachtungsmittelpunkt. Ein Höhepunkt in dieser Umwertung der Geschichte war die besagte Heiligsprechung des letzten Zaren und seiner Familie.
Für zahlreiche orthodoxe Gläubige verbietet sich hierdurch die kritische Hinterfragung oder auch nur erdennahe Darstellung von Nikolaus. Ein aktuelles Beispiel sind die hitzigen Auseinandersetzungen, die in Russland gegenwärtig über den Film Matilda1 geführt werden. Der Streifen thematisiert ein voreheliches Liebesverhältnis Nikolaus´ in seiner Zeit als Thronfolger mit der Balletttänzerin Matilda Kschessinskaja. In Russland wirft diese Thematik eine ganze Reihe heikler Fragen auf: Darf ein heiliggesprochener russischer Zar eine außereheliche Geliebte gehabt haben? Wenn ja, darf man heute darüber reden? Wie menschlich darf Nikolaj gezeigt werden? Derlei Fragen scheinen der russischen Öffentlichkeit wichtiger als etwa der 100. Jahrestag der Russischen Revolution, die der St. Petersburger Monarchie ein Ende bescherte und das Land auf die Suche nach neuen Staatsformen trieb.