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Russland und der Kolonialismus

Kolonialimperien – das sind immer die anderen. Und doch hat Russland über eine Vielzahl an Völkern geherrscht und sein Territorium seit dem 16. Jahrhundert auf das 22-Fache vergrößert. Von der Eroberung Sibiriens bis zur angeblichen „Brüderlichkeit der Sowjetvölker“ wird die Kontinuität des russischen Kolonialismus im Krieg gegen die Ukraine besonders deutlich. Die vor diesem Hintergrund erstarkende Idee einer Dekolonisierung Russlands versucht der Kreml mit allen Mitteln zu unterdrücken. 

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Olga Skabejewa

Zweimal täglich erklärt die Moderatorin im Staatsfernsehen die Welt aus Moskauer Sicht. An manchen Tagen ist sie bis zu fünf Stunden mit Desinformation und Kriegshetze nach Vorgaben des Kreml auf Sendung. Skabejewas Spezialgebiet ist der Vollkontakt: Je nach Bedarf werden Gegner provoziert oder niedergebrüllt. 

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Margarita Simonjan

Ihre steile Karriere begann mit einer Lüge im staatlichen Auftrag. Heute kokettiert die Chefin des Propaganda-Senders RT und der staatlichen Medienholding Rossija Sewodnja offen mit ihrer Rolle als Gesicht der russischen Desinformation. Der Kreml belohnt sie großzügig dafür. 

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Sergej Eisenstein

Sergej Eisenstein (1898–1948) wird oft der Leonardo da Vinci des 20. Jahrhunderts genannt – der Filmregisseur, der ein brillanter Zeichner, Kostüm- und Bühnenbildner, zugleich Schriftsteller und Theoretiker war.1

Sein Leben ist fast eine Metapher für das Schicksal eines Künstlers im 20. Jahrhundert – mit allen Wendungen, Verführungen und Konflikten: zwischen dem großbürgerlichen Elternhaus und dem existentiellen Modell eines Avantgardekünstlers; zwischen dem Avantgardisten und dem proletarischen Publikum, in dessen Namen er zu sprechen glaubt und das ihm nicht folgen kann.

Als sowjetischer Linker traf er auf die westeuropäische Bohème und die Maschine Hollywood. In Mexiko drehte er einen Film, den man heute indie nennen würde, finanziert von Upton Sinclair und einigen kalifornischen Millionären, die anonym bleiben wollen. Er hätte im Exil bleiben oder – wie seine Freunde Isaak Babel und Wsewolod Meyerhold – durch ein Sondergericht zur Erschießung verurteilt werden können. Er lernte jedoch, unter Stalin zu leben und mit ihm – zwischen Verboten, Verlockungen, Erpressung, Angst und Anpassung.

Stalinist? Opportunist? Dissident? – Der schillernde Regisseur Sergej Eisenstein gibt bis heute viele Rätsel aufDie Rezeption dieses zum Klassiker gewordenen Umstürzlers war keineswegs eindeutig. Zu Zeiten der Wiederentdeckung sowjetischer Avantgardekunst wird Eisenstein im Westen von der Generation der 1968er als linker Künstler gefeiert. In seiner Heimat dagegen erblickt die gleiche Generation – nach dem XX. Parteitag – in ihm einen Konformisten. Eisenstein habe, genauso wie die Futuristen in Italien, den Faschismus gefeiert und gestützt, er habe der Stalinzeit ein pathetisches und daher fragwürdiges Monument gesetzt – eine Meinung, die Alexander Solschenizyn einem seiner Protagonisten in den Mund legt. Russische Intellektuelle von heute interpretieren die oft deklarierte Absicht Eisensteins, das Bewusstsein mittels Kunst beeinflussen zu wollen und deren Wirkung zu programmieren, als eine totalitäre Poetik: Die Kunst habe die Gewalt des Staates genährt.

Biographie als Erziehungsroman

Eisensteins Biographie lässt sich bequem in einem soliden Roman unterbringen. Eine bürgerliche Familie zerbricht an der Tyrannei des Vaters und den neurotischen Liebesabenteuern der Mutter. Der Weg des einzigen Sohnes (geb. 10. (22.) Januar 1898 in Riga) steht schon vor der Geburt fest: Er soll – wie der Vater – Architekt werden. Die Revolution 1917 kommt dazwischen, bringt seinen Vater um den Generalsrang und seine Mutter um das Vermögen, ihm gibt sie die Freiheit, selbst zu bestimmen – entgegen der Erwartung von papa, den die Revolution ins Exil treibt. So empfindet sie der Sohn als seine persönliche Befreiung und wird Regisseur.

Mit 27 wird er mit seinem zweiten Film Der Panzerkreuzer Potemkin (1925) als Revolutionskünstler weltberühmt. In Oktober oder 10 Tage, die die Welt erschütterten stellt er die Oktoberrevolution nach – beeindruckender, als sie war. Nachdem er mit seinen experimentellen Drehbüchern in Hollywood scheitert, lässt er sich auf ein Abenteuer ein – einen Film in Mexiko zu drehen, den er allerdings nicht beendet. Er wird von Stalin zurückgerufen, und doch kann er fünf Jahre lang keinen Film machen. Zwei seiner Filme werden verboten, zwei mit Preisen, Orden und hohen Honoraren belohnt. Er stirbt mit 50 in Moskau als gefeierter, doch verbotener Akademiker.

Eisenstein wollte all seinen Biographen zuvorkommen. Bereits 1927 beschloss er, unter dem Eindruck von Freuds Essay über Leonardo da Vinci, eine psychoanalytische Studie über sich selbst zu schreiben; er nannte sie My Art in Life. In den erst Jahre später (1943) begonnenen autobiographischen Aufzeichnungen2 verwandelte er sich in eine literarische Figur aus einem alten Erziehungsroman, welchen er allerdings in der neuen Stilistik des „automatischen Schreibens“ verfasste.

War er ein Homosexueller? Ein Stalinist? Opportunist? Dissident? Darauf gibt Eisenstein in seinen Biographien keine Antwort. So ist es auch kein Wunder, dass in den letzten Jahren weniger Eisensteins Filme oder Schriften das Interesse für ihn anheizten, sondern die Figur des Künstlers selbst. Ihn haben sowohl die Kämpfer gegen den Totalitarismus als auch LGBT-Aktivisten oder Hüter der jüdischen Kultur, zu er sich nicht zählte, für sich vereinnahmt. Es ist ebenso kein Wunder, dass es mehrere Versuche gab, das Leben Eisensteins zu „verfilmen“. Selten jedoch wurde er zu einer tragischen oder pathetischen Figur gemacht, eher zum Helden eines Melodramas mit Slapstickeinlagen.3

Körperlichkeit und Bisexualität

All diese Versuche, Eisenstein in eine Fiktion zu pressen, geraten – unverdient – traditionell, wie auch die Darstellung seiner Körperlichkeit, die für den realen Eisenstein eine andere Dimension hatte. Die Theorie war in seinem Verständnis durch und durch körperlich bestimmt – als Erlebnis von Bisexualität, die für ihn eine Voraussetzung für dialektisches Denken war: „Überhaupt ist ein Genie ein Mensch, der die dialektische Entwicklung des Universums fühlt, der sich in sie einfügen kann. Bisexualität als eine physiologische Voraussetzung muss bei allen creative dialectics vorhanden sein.“4

Während Eisenstein diese Gedanken in seinem mexikanischen Tagebuch notiert, schreibt er auch einen Brief an Magnus Hirschfeld und fragt ihn nach Belegen für Hegels Bisexualität.5 Das war exakt der Rahmen, in dem er sich sah. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.6

Vor seiner Sexualität hatte er Angst. Er verdrängte sie in erotischen Zeichnungen und Scherzen, aber auch in seinen Filmen, die er allerdings nicht als Sublimierung der Erotik, sondern des eigenen Sadismus verstand. Er sah sich als ein Kind, dessen Brutalität durch emotionale Unreife und sexuelle Verklemmtheit entstand. In seiner Kunst – sie war für ihn die einzige Realität und Notwendigkeit – traf er die wunden Punkte des Jahrhunderts: Gewalt und Massenmord, die Erotik der Masse und der von ihr eroberte Raum, Zersplitterung der Wahrnehmung und Sehnsucht nach verlorener Totalität.

Terror, Revolution und Massaker an den Massen

Eisenstein verstand Film als eine Form der Gewaltausübung über den Zuschauer. Nicht nur hinsichtlich des direkten Zeigens von kalkulierten Schockmomenten mit Blut. Von seinen leidenschaftlichen, brutalen, exzentrischen, sensiblen, propagandistischen, experimentellen Filmen waren Douglas Fairbanks und Antonin Artaud, Chaplin und Le Corbusier, die Dadaisten, Psychoanalytiker und Berufsrevolutionäre begeistert. Diese Filme machten Terror, Revolution, die Massaker an den Massen zum Sujet des neuen russischen Films.

Nach der Premiere von Panzerkreuzer Potemkin in Berlin wurde der russische Montagefilm zu einer Mode in Europa und Eisenstein zu seinem berühmtesten Vertreter, zum Theoretiker der neuen Expressivität. Dieser Film transportierte ein neues Filmverständnis, ein anderes Russlandbild und einen anderen Heldentyp. Die Revolution war mit Gewalt verbunden. Mit dieser Gewalt – Pogrom, Zerstörung, Aufstand und Massenvernichtung – setzten sich Eisensteins Filme auseinander. Dabei atmeten ihre apokalyptischen Bilder eine Euphorie des Neuanfangs, und diese wirkte ansteckend. Die neue Ästhetik verblüffte, ihre hypnotische Wirkung konnte nicht gleich eingeordnet werden.

Zwei kennzeichnende Züge

Im Westen gab es unterschiedliche Interpretationsversuche. Die Eigenart des neuen „Russenfilms“ erklärte der Kritiker Alfred Kerr aus Gegensätzen, die in der nationalen Mentalität verankert seien und diese würde durch die geopolitische Grenzlage Russlands – zwischen Europa und Asien, zwischen Zivilisation und Barbarei – bestimmt. „Zwei kennzeichnende Züge hat angeblich der Russe. Erstens: er ist weich; fühlsam. Zweitens: er ist radikal. Es ließe sich dilettantisch-dogmatisch äußern: erstens – ein Slawe; zweitens – ein Tatar. [...] Also diese zwei Gegensätze (das Einfühlsame, zweitens das Radikale) sind hier verschmolzen.“7 Die besondere Montagetechnik des Panzerkreuzers Potemkin, die mit der Konfrontation gegensätzlicher Bilder arbeitete, wurde deshalb als eine „russische“ bezeichnet.

Eisenstein jedoch nannte sie nicht russisch, sondern dialektisch. Oskar A. H. Schmitz maß den Film an bürgerlichen Romanen und sprach ihm künstlerische Qualitäten ab, da hier das Individuelle total fehle. Wogegen Walter Benjamin in seiner Erwiderung den überraschendsten und treffendsten Vergleich mit dem amerikanischen Slapstick, dem „Groteskfilm“, anbot: Dieser habe genauso wie Potemkin eine neue Formel gefunden, die den Fortschritt der Kunst markiere – im Gleichschritt mit der Revolution der Technik.8

Die Bewusstwerdung dieser Tatsache und der von Eisenstein reflektierte Zusammenhang zwischen Raum und kollektivem Schicksal, wie er für das 20. Jahrhundert bestimmend wurde, hoben den Film heraus aus dem alten Verständnis, was Kunst war, was Film konnte und was die „russische Seele“ ausmachte. Die Montage intensivierte nicht nur die Bewegung, sie entblößte den Mechanismus des Wirkens der sozialen Maschine.

Damit entwickelte sich Film zu jenem Medium, über das eine Totalität der Sicht auf die Entwicklung der Gesellschaft und der Geschichte erreicht werden konnte. Diese Entdeckung war nicht nur für das neue russische Kino wichtig. Allerdings mit einer Korrektur. Die Gewalt wanderte ins Genrekino ab, wurde ästhetisiert und von der Historie getrennt: Film war ein aggressives Aufputschmittel, doch, anders als bei Eisenstein, von jeder Dialektik befreit.


1.Sergei Eisenstein: My Art in Life – ein Projekt des Google Cultural Institute (Arts & Culture)
2.Klejman, Naum/Korschunowa, Walentina (1984): Eisenstein, Sergej : Yo – Ich, Band 1-2, Berlin
3.Darin ähnelte sich der Ansatz des russischen Regisseurs Gennadi Poloka (Die Rückkehr des Panzerkreuzers, 1996) und dem des kanadischen Regisseurs Renny Bartlett (Eisenstein, 2000). Auch Peter Greenaway verfiel in Muster des herzzerreißenden Melodramas über Liebe und Pflicht (Eisenstein in Guanajuato, 2015), in dessen Zentrum Eisensteins ‚Entjungferung‘ in Mexiko steht. Daraus ist das kitschige Werk eines älteren Mannes geworden, auch wenn der Film mit seiner popartigen Stilistik wie eine Anbiederung beim jüngeren Publikum wirkt. Zu aufwühlender Musik verlässt Eisenstein mit Tränen in den Augen Mexiko und gibt seinen verführerischen mexikanischen Liebhaber dessen Frau und Kindern großzügig zurück, was wenig mit Eisensteins Biografie zu tun hat; dieser ging nach Moskau, weil Stalin ihn zurückbeorderte oder sonst verstoßen hätte.
4.Russisches Archiv für Literatur und Kunst: Tagebuch, 10. März - 22. August 1931, Blatt 138-139
5.Bulgakowa, Oksana (1998): Eisenstein und Deutschland, Berlin, S. 96-97
6.In diesem Kontext ist die Arbeit von Alexander Kluge Nachrichten aus der ideologischen Antike: Marx – Eisenstein – Das Kapital (2008), der sich von Eisensteins Idee, Karl Marx‘ Kapital zu verfilmen, inspirieren ließ, als Versuch einer heroischen Rehabilitation des intellektuellen Elements in Eisenstein gegenüber dem körperlichen zu sehen.
7.Kerr, Alfred (1927): Der Russenfilm, Berlin, S. 14
8. Mierau, Fritz (1990): Russen in Berlin. Literatur, Malerei, Theater, Film 1918-1933, Leipzig, S. 515-524
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