„Die Lehre von Marx ist allmächtig, weil sie wahr ist“, schrieb 1913 ein damals wenig bekannter Vertreter einer russischen Kleinpartei in einem Artikel. Sein Autor war Lenin und später wurde der Ausspruch zu einem der wohl meistzitierten Sätze in der russischen Wissenschaft und Publizistik des 20. Jahrhunderts. Diese Phrase, so absurd und autosuggestiv wie sie ist, zeigt deutlich, wie ausgerechnet in Russland ein vermeintlich texttreuer, dogmatischer Marxismus zu einer dominierenden und schließlich sogar absolut gesetzten Ideologie wurde. So paradox das scheint, es gibt doch eine innere Logik.
Für die im Zuge des Oktoberaufstands 1917 zur Macht gekommenen Bolschewiki waren die Texte von Marx und Engels über Russland und das Russische Zarenreich in vielerlei Hinsicht irritierend. David Rjasanow, Leiter des Marx-Engels-Archivs in Moskau, wurde von Stalin entlassen, später verhaftet und 1937 schließlich erschossen, unter anderem weil er einen Gutteil der zu Lebzeiten gedruckten und ungedruckten Russland-Schriften von Marx und Engels zugänglich gemacht hatte. Und das war eine Todsünde. Stalin sorgte dafür, dass einige dieser Schriften aus dem Kanon der Marx-Engels-Werke ausgeschlossen blieben. Das betraf etwa die gegen den Panslawismus gerichteten, von Verschwörungsvorstellungen getriebenen, teilweise genuin slawophoben und russophoben Artikel aus den 1850er Jahren. In ihnen war das lebenslange Leitmotiv des Kampfs auf Leben und Tod gegen die „halborientalische Despotie“ des Zarentums bis in recht absurde Extreme getrieben worden. Noch heikler waren aber Marx‘ späte Stellungnahmen in den 1870er Jahren zu den Streitigkeiten zwischen den russischen Narodniki (dt. Volkstümlern) und Marxisten – in denen er sich latent auf die Seite der Ersteren und gegen die Letzteren stellte.
Eingeimpfter orientalischer Sklavengeist
Darin zeigte sich eine späte, aber tiefgreifende Änderung seiner Haltung gegenüber Russland selbst. Wie viele 1848er-Revolutionäre war Marx von einer tief verwurzelten, mehr oder weniger stabilen Übereinstimmung zwischen Autokratie, Orthodoxie und dem russischem Volk ausgegangen, derer nur einzelne mutige Geister oder verzweifelte Verschwörer sich hatten entziehen können. Und wenn dieser eingeimpfte orientalische Sklavengeist von Zeit zu Zeit durch einen blindwütigen Aufstand der Leibeigenen und Vaganten durchbrochen wurde, dann hatten diese anarchischen Aufstände sich regelmäßig als noch despotischer und noch barbarischer herausgestellt, als die Despotie selbst. Der Aufstand wird dabei zum legendären russki bunt, der laut Alexander Puschkin „sinnlos und ohne Gnade“ sei.
Die sozialhistorische Unterlage zu diesem im ganzen aufgeklärten Europa geläufigen Russland-Bild war der alt-etablierte Topos einer „(halb)orientalischen“ Despotie und Produktionsweise. Diese Kategorie hatte Marx nur rudimentär theoretisch weiter ausgearbeitet und für Russland mit einer Reihe eher willkürlicher Annahmen unterfüttert: etwa wenn er die Reformen Peters des Großen und seiner NachfolgerInnen als bloße Modernisierungen einer im Kern noch immer „tatarischen“ Despotie und Welteroberungsmanie interpretierte, die in der Passivität und Zerstreuung der bäuerlichen, dorfgemeindlichen Basis ihre Grundlage und Ergänzung finde.
Initialzündung der gesamteuropäischen Revolution
Nach der Niederlage des Zarenreichs im Krimkrieg 1856, der Aufhebung der Leibeigenschaft 1861 und weiteren Reformen Alexanders II, dem forcierten Bau von Eisenbahnen und der verstärkten Einbindung des Russischen Reichs in die Weltwirtschaft öffnete Marx sich allerdings der Einsicht, dass der starr-hierarchische Korpus dieser Reichsgesellschaft in eine unaufhaltsame Bewegung und Gärung geraten war. Gerade in Russland reifte womöglich eine politische, soziale und geistige Krise heran, die das Land aus dem Zirkel seiner nach innen stationären, nach außen expansiven Entwicklungen herauskatapultieren und damit die Lage in Europa und in der Welt schlagartig verändern konnte. Ein „russisches 1789“, etwa in Form einer konstitutionellen Reform, dem ein von bäuerlichen, proletaroiden Massen und von radikalen Intellektuellen getragenes „1792“ oder „1793“ folgen musste, könnte, so die hoffnungsvolle Erwartung, zur Initialzündung der lange überfälligen gesamteuropäischen Revolution werden. Ja, eine russische „Bauernkommune“ wäre im Idealfall die gegebene, geradezu natürliche Ergänzung einer europäischen „Arbeiterkommune“. Und da der Übergang zum Sozialismus nur, wie es im Manifest der kommunistischen Partei schon geheißen hatte, als „die Tat der fortgeschrittenen Völker auf einmal“ denkbar war, würde Russland selbst mit all seinen unterdrückten Energien und intellektuellen Potentialen vielleicht bald ganz vorne mitmarschieren.
Den Anstoß für Marx’ späte Hinwendung zu Russland hatte die anfangs voller Misstrauen, dann mit spöttischer Verwunderung, schließlich mit wachsendem Interesse registrierte Tatsache gebildet, dass Das Kapital schon bald nach der deutschen Erstausgabe von 1867 ins Russische übersetzt wurde. Unter der Intelligenzija des Zarenreichs, darunter namhaften Ökonomen, hatte es ein weitaus lebhafteres Echo gefunden als in Deutschland oder irgendwo sonst in Europa. Diese Aufgeschlossenheit signalisierte Marx etwas Größeres, Weitergehendes; und die Entstehung der russischen Narodniki-Sozialisten, die ihrerseits den Kontakt mit den europäischen Sozialisten, und gerade auch zu ihm, Marx selbst, suchten, deutete auf einen intellektuellen Reifungsprozess, der selbst nur ein Reflex der rapiden Veränderungen im Lande sein konnte.
Das war der tiefere Grund dafür, dass Marx sich in seinem letzten Lebensjahrzehnt „auf Tod und Leben“ (so seine Frau Jenny) in das Studium der russischen Sprache stürzte, um russische Journale und wissenschaftliche Arbeiten im Original zu lesen und zu exzerpieren, die sich vor allem mit der Agrarstatistik, aber auch mit dem soziologischen Grundriss der russischen Gesellschaft insgesamt beschäftigten. Diesen Studien hatte er, wie Engels nach seinem Tod grimmig feststellte, die immer wieder angekündigte Fertigstellung der beiden Folgebände des Kapitals geopfert.
Im Zuge dessen hatte sich eine dichte und recht vertraute Korrespondenz zwischen Marx und dem Hauptübersetzer seiner Schriften, Nikolaj Danielson, entwickelt, der ihn von Petersburg aus mit der wichtigsten sozialtheoretischen Literatur aus Russland versorgte. Wie sich herausstellte, war Danielson einer der Theoretiker der Narodniki-Sozialisten.
Theoretische Qual der russischen Sozialisten
Die Frage, die alle russischen Sozialisten quälte, war die, ob ihr Land vor einer proletarischen Revolution erst eine unabsehbar lange Phase einer bürgerlich-kapitalistischen Entwicklung durchlaufen müsse – oder ob es nicht einen anderen, schonenderen und vielleicht sogar „progressiveren“ Weg der Entwicklung einschlagen könne. Und hier kam die alte Frage der russischen Obschtschina (dt. Dorfgemeinde) mit ihren angeblichen Residuen eines archaischen Gemeinschaftslebens neu ins Spiel.
Marx hatte diese slawophile Lieblingsidee zunächst lange und vernichtend kritisiert. Auf seine alten Tage fand er an der Idee einer Übergangsrolle dieser Obschtschina im Falle einer revolutionären Sozialumwälzung in Russland jedoch vorsichtig Gefallen. Gleichzeitig verfolgte er mit wachsendem Unbehagen die Begründung eines doktrinären „Marxismus“ in Russland, der auf die noch kaum existente Arbeiterklasse im Bündnis mit dem liberalen Bürgertum setzte.
Im Vorwort zu einer russischen Neuausgabe des Manifests gab Marx, kurz vor seinem Tod, in dieser zentralen Streitfrage eine Stellungnahme ab, die tendenziell den „Volkstümerln“ gegenüber den „Marxisten“ recht gab. Dabei führte er allerdings eine neue, wesentliche Bedingung ein: „Wird die russische Revolution das Signal einer proletarischen Revolution im Westen, so dass beide einander ergänzen, so kann das jetzige russische Gemeineigentum am Boden zum Ausgangspunkt einer kommunistischen Entwicklung dienen.“
Russischer Marxismus
Marx erlebte nicht mehr, dass in den 1890er Jahren buchstäblich alle Richtungen der russischen Intelligenzija sich in sein Kapital vertieften, in welchem das innerste Geheimnis der Dynamik der kapitalistischen Länder des Westens enthüllt schien. Darunter waren auch einige führende Liberale. Sie destillierten aus Marx' Schriften eine stufenweise Entwicklungstheorie, die – schon aus Angst vor der Kolonisierung des Russischen Reiches durch seine westlichen Rivalen – ganz auf einen offensiven Imperialismus setzte.
Diese sich bis zum Weltkrieg steigernden imperialistischen Konflikte waren dann die Stunde Lenins, des Gründers der Partei der Bolschewiki, der die Dorfgemeinde für historisch erledigt erklärte, weil sie sich längst in Ausbeuter und Ausgebeutete geteilt habe. Gleichzeitig wies er den proletaroiden bäuerlichen Massen die Rolle einer Reservearmee der zu schwachen Arbeiterklasse zu. Damit machte er sie zur anarchischen Spielmasse seiner aus der radikalen Intelligenzija geformten Partei von Berufsrevolutionären. Dieser Quadratur des theoretischen wie strategischen Kreises gab Lenin das Siegel eines „wahren“ und daher „allmächtigen“ Marxismus eigener Prägung, die man nach seinem Tod „Leninismus“ nannte, bevor Stalin daraus einen nicht mehr hinterfragbaren, in fixe Formeln gegossenen „Marxismus-Leninismus“ schmiedete. Dem ewig Unvollendeten und Sucher Marx, dessen Leitwort „De omnibus dubitandum – An allem ist zu zweifeln“ war, wäre das mit Sicherheit ein Gräuel gewesen. Aber wer fragt schon Gipsbüsten nach ihrer Meinung?