Im Jahr 1840 verließ der deutsche Astronom Johann Heinrich Mädler die Berliner Sternwarte, und machte sich auf den Weg ins Russische Reich. In dem Land, wo viele deutsche Wissenschaftler tätig waren, übernahm er die Leitung der Sternwarte Dorpat (heute Tartu in Estland). Er hatte große wissenschaftliche Pläne. Ihn erwartete in Russland nicht nur moderne Technik, sondern auch ein altertümlicher Kalender.
Während in den meisten europäischen Ländern zu der Zeit der gregorianische Kalender galt, lebte Russland noch mit dem alten julianischen. Und der Unterschied war groß: Zwölf Tage, und seit 1900 sogar 13. Da Russland aber nicht nur Handel, sondern auch viele politische und wissenschaftliche Beziehungen mit Europa pflegte und in den Städten außerdem viele Europäer lebten, musste man oft beide Daten im Blick behalten. In einem Aufsatz schrieb Mädler: „Unser heutiger Kalender ähnelt einer Uhr, die nicht nur ständig nachgeht, sondern auch falsch funktioniert“.1 Er unterbreitete den Vorschlag zu einer innovativen Kalenderreform, die dem „chronologischen Doppeldenken“ ein Ende setzen und auch die Fehler im gregorianischen Kalender korrigieren sollte. Russland hat jedoch erst nach dem Oktoberumsturz die fehlenden Tage nachgeholt. Mit dem Doppeldenken aber ging es weiter – noch heute sind seine Spuren sichtbar.
Der Vorschlag, den in Russland geltenden julianischen Kalender dem europäischen anzupassen, wurde auch schon vor Mädler gemacht. So regte die St. Petersburger Akademie der Wissenschaften bereits 1830 an, eine solche Reform durchzusetzen. Der damalige Bildungsminister Karl von Liven warnte diesbezüglich Zar Nikolaus I., dass die Reform zu „unerwünschten Unruhen“ führen könne.2 Solch radikale Veränderungen könnten von der orthodox geprägten Bevölkerung negativ aufgefasst werden. Selbst den Übergang zum julianischen Kalender, der 1700 im Zuge der Reformen von Peter dem Großen geschah, bezeichnete man oft als antichristlich.
Kalender als russische Mission
Das Entscheidende für das Ablehnen aller Vorschläge jedoch war die Position der Russisch-Orthodoxen Kirche. Diese war vor allem wegen der Bestimmung der Ostertage dagegen. Nach dem gregorianischen Kalender fiel Ostern – wenn auch sehr selten – mit dem alttestamentarischen Pessach-Fest zusammen, was der orthodoxen Kirche nicht annehmbar schien.
Die kompromisslose Position der Kirche besiegelte zunächst auch das Schicksal von Mädlers Vorschlag – der erst nach dessen Tod in der neu geschaffenen Kommission zur Kalenderreform 1899 ernsthaft diskutiert wurde. Auch wenn renommierte Wissenschaftler wie Dimitri Mendelejew für die Reform plädierten, konnte man sie zunächst nicht durchsetzen. „Die kulturelle Mission Russlands besteht in dieser Frage darin, den julianischen Kalender noch einige Jahrhunderte am Leben zu halten und damit den westlichen Völkern die Rückkehr zu erleichtern, weg von der gregorianischer Reform, die keiner braucht, zum unverdorbenen alten Stil“,3 so argumentierte der Vertreter der Synode Wassili Bolotow bei einer Kommissionssitzung.
Die Tatsache, dass von der Regierung eine Kommission und damit auch ein Diskussionsraum geschaffen worden war, war bereits ein Zeichen, dass das Problem als solches erkannt wurde. Meteorologische Dienste und auch viele Behörden, vor allem die, die mit Außenbeziehungen und Handel zu tun hatten, waren bereits im 19. Jahrhundert zum gregorianischen Kalender übergegangen. In Zeitungen und Zeitschriften schrieb man beide Daten. Auch wenn das alltägliche und vor allem religiöse orthodoxe Leben im Land nach der alten Zeitrechnung verlief, war der sogenannte „neue Stil“ in der Öffentlichkeit durchaus präsent.
Symbolischer Bruch mit dem Zaren
Am 18. April 1917 schrieb der bereits entmachtete Nikolaus II. in seinem Tagebuch: „Im Ausland ist heute 1. Mai, deswegen haben unsere Tölpel entschieden, diesen Tag mit Umzügen, Chormusik und roten Fahnen zu feiern.“4 Das war nicht nur die erste legitime Feier des Tags der Arbeit in Russland, sondern auch das erste Mal, dass der „neue Stil“ dem alten vorgezogen wurde. Die Datierungen der revolutionären Ereignisse waren aber nicht konsequent. So fanden nach gregorianischem Kalender die Februarrevolution erst im März (23. Februar/8. März) und der Oktoberumsturz (25. Oktober/7. November) erst im November statt.
Die Kalender-Reform wurde schließlich erst nach dem Oktoberputsch von den Bolschewiki per Dekret durchgeführt. Diesmal ohne große Diskussionen oder gar Rücksprache mit der Kirche. „Als erster Tag nach dem 31. Januar gilt nicht der 1. Februar, sondern der 14. Februar“, hieß es im Dekret vom 26. Januar (8. Februar) 1918. Die Bolschewiki hatten wohl die proletarische Weltrevolution im Kopf, die „im Gleichschritt“ stattfinden musste – auch in kalendarischer Hinsicht. Sie hatten aber auch noch ein weiteres Ziel. Mit diesem Dekret, so der Osteuropahistoriker Karl Schlögel, war auch „symbolisch auf der Ebene der Zeitrechnung der Bruch mit dem Zarenregime vollzogen“.4
Doppelherrschaft der Zeitregime
Der Kalender listet nicht nur die Reihenfolge der Tage und Monate, er beinhaltet auch die Feiertage, die das gesellschaftliche Leben organisieren und strukturieren. Während vor der Revolution hauptsächlich kirchliche Feiertage begangen wurden, begann im Jahr 1917 „die Arbeit an einem neuen Zeitregime, einer neuen Zeitordnung, die sich vor allem gegen die von der Russisch-Orthodoxen Kirche geprägten Feiertage richtete“.5 1930, als alle kirchlichen Feiertage aus dem Kalender gestrichen wurden, schien diese Aufgabe offiziell erledigt zu sein.
Die Russisch-Orthodoxe Kirche blieb allerdings bei der alten Zeitrechnung und legte dies schon beim Allrussischen Landeskonzil der Kirche 1918 fest. „Die Einführung des neuen Stils im zivilen Leben der russischen Bevölkerung darf den kirchlichen Menschen nicht daran hindern, seine kirchliche Lebensweise beizubehalten und sein religiöses Leben nach altem Stil fortzusetzen“6, hieß es in der Begründung. Da die Bevölkerung Russlands jedoch stark orthodox geprägt war und sich an der alten Kultur der Festtage orientierte, entstand ein komisches Phänomen: die gleichzeitige Existenz von zwei Zeitordnungen, der „julianisch-orthodoxen“ und der „gregorianisch-bolschewistischen“, die Schlögel als „Doppelherrschaft der Zeitregime“ bezeichnet.7 Man feierte also die staatlich-revolutionären und die kirchlichen Feiertage parallel. Auch wenn letztere verboten wurden.
Betroffen von diesem Verbot waren unter anderem Weihnachten und das Neujahrsfest. Nach neuer Zeitrechnung wurden die Daten der alten Feiertage umgerechnet, Weihnachten entsprechend am 7. Januar und Neujahr am 14. Januar nach neuem Stil gefeiert. Teilweise ziehen es orthodoxe Gläubige noch heute vor, Neujahr erst am 14. Januar zu begehen. Denn in der orthodoxen Tradition geht Weihnachten eine Fastenzeit voraus, die das Feiern ausschließt. Für den 14. Januar entstand in Anspielung auf den „alten Stil“ der Begriff Altes neues Jahr.
2016 hatte laut einer Umfrage des Lewada-Zentrums fast die Hälfte der Russen vor, Neujahr zwei Mal zu feiern.8 Am 14. Januar allerdings viel bescheidener als am 31. Dezember, weil man am nächsten Morgen meist früh zur Arbeit muss.
1.zit. nach: Klimišyn, Ivan (1985): Zametki o našem kalendare
2.zit. nach: Ibid
3.zit. nach: Chulan, Wladimir (2016): „Kalendarnyj vopros“: sobornyje diskussii v istorii i sovremennosti in: Gosudarstvo, religija, cerkov´ v Rossii i za rubežom, Nr. 1 (34), S. 193
4.Schlögel, Karl (2017): Das Sowjetische Jahrhundert: Archäologie einer untergegangenen Welt, München, S. 581
5.Ibid. S. 582
6.Swjaščennyj Sobor Pravoslavnoj Rossijskoj Cerkvi. Dejanija. Kniga VI: Dejanija LXVI-LXXVII, Moskva, 1918
7.Schlögel, S. 582. Der Begriff „Doppelherrschaft der Zeitregime“ ist eine Anspielung auf die Doppelherrschaft der Provisorischen Regierung und der Räte, die zwischen Februar- und Oktoberrevolution in Russland existierte.
8.interfax.ru: Meneje poloviny rossijan sobralis´ otmečat´ Staryj Novyj God