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Russland und der Kolonialismus

Kolonialimperien – das sind immer die anderen. Und doch hat Russland über eine Vielzahl an Völkern geherrscht und sein Territorium seit dem 16. Jahrhundert auf das 22-Fache vergrößert. Von der Eroberung Sibiriens bis zur angeblichen „Brüderlichkeit der Sowjetvölker“ wird die Kontinuität des russischen Kolonialismus im Krieg gegen die Ukraine besonders deutlich. Die vor diesem Hintergrund erstarkende Idee einer Dekolonisierung Russlands versucht der Kreml mit allen Mitteln zu unterdrücken. 

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Olga Skabejewa

Zweimal täglich erklärt die Moderatorin im Staatsfernsehen die Welt aus Moskauer Sicht. An manchen Tagen ist sie bis zu fünf Stunden mit Desinformation und Kriegshetze nach Vorgaben des Kreml auf Sendung. Skabejewas Spezialgebiet ist der Vollkontakt: Je nach Bedarf werden Gegner provoziert oder niedergebrüllt. 

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Margarita Simonjan

Ihre steile Karriere begann mit einer Lüge im staatlichen Auftrag. Heute kokettiert die Chefin des Propaganda-Senders RT und der staatlichen Medienholding Rossija Sewodnja offen mit ihrer Rolle als Gesicht der russischen Desinformation. Der Kreml belohnt sie großzügig dafür. 

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Arbeiter und Kolchosbäuerin

Sie sind eine Ikone der Sowjetunion, eine Art sowjetische Freiheitsstatue: Die mit Hammer und Sichel in Richtung einer leuchtenden, wunderbaren Zukunft tanzenden Titanen Arbeiter und Kolchosbäuerin. Die Figurengruppe krönte den sowjetischen Pavillon auf der Weltausstellung in Paris 1937, mit dem die junge Sowjetunion ihren Platz unter den Industrienationen beanspruchte. Die rund 24 Meter hohe Statue von Wera Muchina und Boris Iofan symbolisierte den Zusammenschluss von Arbeiter- und Bauernschaft und sollte selbstbewusst Fortschritt und Errungenschaften des ersten sozialistischen Staates ausdrücken. 1937, 20 Jahre nach der Oktoberrevolution, verkörperten die jugendlichen Gestalten des Arbeiters und der Kolchosbäuerin die idealtypischen „Kinder des Oktobers“: Sie waren Angehörige der sehnsüchtig erwarteten „ersten sowjetischen Generation“.1 Das Paar, das seit 1939 in Moskau steht, erschien auf Briefmarken, Plakaten und Postkarten und dient seit 1947 als Erkennungszeichen des staatlichen Kinoproduzenten Mosfilm. Als Schlüsselwerk des Sozialistischen Realismus wurde die Monumentalstatue Vorlage für Parodien und visuelles Klischee für die Werbung.
 

Die außerordentliche Dynamik verdankt die Statue der Bewegung von den Fußspitzen bis in die erhobenen Hände, während die nach hinten gereckten Arme mit dem wehenden Schal Flügeln gleichen, auf denen sich die Gestalten kühn durch die Lüfte schwingen. Die 75 Tonnen schwere Monumentalskulptur aus rostfreiem Chromnickelstahl wurde zum Symbol für die Symbiose von Technik und Kunst im industriellen Zeitalter.2 Die Statue wurde in einem Moskauer Maschinenwerk von einem Kollektiv aus Künstlern, Facharbeitern und Ingenieuren innerhalb von drei Monaten hergestellt. Ihre Montage auf dem über 35 Meter hohen Pavillon war ein risikoreiches Unterfangen. Die monumentale Statue machte entsprechend Eindruck und gewann – gemeinsam mit dem direkt gegenüber platzierten deutschen Pavillon – den Grand Prix. 

Prestigeprojekt auf dem Höhepunkt des Terrors

Das Prestigeprojekt entstand auf dem Höhepunkt von Stalins Terrorkampagnen und musste höchsten Ansprüchen genügen. Den Wettbewerb für den Pavillon gewann der Architekt Boris Iofan. Ähnlich wie für den (nie erbauten) Palast der Sowjets in Moskau geplant, sollte auch der Pavillon von einer Kolossalstatue gekrönt werden. Iofan schwebte zunächst als Vorbild die Nike von Samothrake aus dem Louvre vor. Der Pavillon stand jedoch im Zeichen des „Neuen Menschen“3, der in der sowjetischen Ikonographie stets als Paar auftrat. 

Für die zukunftsträchtige Vereinigung von Arbeitern und Bauern im Kampf für Freiheit und Fortschritt diente die antike Figurengruppe der Tyrannenmörder als Vorbild.4 Die Dynamik der Bewegung erinnert auch an die Liberté von Eugène Delacroix aus dem Jahr 1830 (dt. Die Freiheit führt das Volk) und an das Relief Der Auszug der Freiwilligen (La Marseillaise) von François Rude (1784–1855) an der Ostseite des 1836 eingeweihten Pariser Arc de Triomphe, die ihrerseits der griechischen Siegesgöttin im Louvre glichen.5

Den Wettbewerb zur Gestaltung der Figurengruppe gewann Wera Muchina. Ihr Entwurf unterschied sich wesentlich von Iofans Vorlage, aber die hohe Kommission aus Mitgliedern des Politbüros unter dem Vorsitz Wjatscheslaw Molotows folgte ihm nicht in allen Punkten. Muchina musste zum Beispiel die in ihrem Entwurf nackten Figuren bekleiden. Auch die wehende Stoffbahn weckte Bedenken bei Molotow: Die Bäuerin sei doch keine Tänzerin oder Eisläuferin. Muchina antwortete, der Schal sei als Gegengewicht statisch notwendig.6

Pathosformel und Stahlsymbolik

Die Komposition eröffnet aus jedem möglichen Blickwinkel neue, unerwartete Konstellationen und besticht durch ihre scheinbare Bewegung.7 Der überzeitliche Zauber der Statue erklärt sich durch ihre Anlehnung an Ausdrucksformen des antiken Pathos, wie sie Aby Warburg in seinem Begriff der Pathosformel fasste. Er bezeichnete damit von Renaissancekünstlern verwendete Symbole zur Darstellung des gesteigerten menschlichen Gefühlsausdrucks, die sich auch in dieser Statue finden.8 So werden die Gewänder vom Wind an die Körper der Idealfiguren gepresst und lassen dessen Konturen deutlich durchscheinen. Das „bewegte Beiwerk“9 der wehenden Haare, des Faltenwurfes und des Schals dienen der Steigerung des Ausdrucks ebenso wie die Choreographie des Schrittes, der zum Tanz wird. Der Schritt des Paares ist einerseits dem Leben nachempfunden und zugleich losgelöst. Er ist flüchtig und dabei in der Zeit blockiert, mit dem Boden verbunden und schwebend.10 Das macht der nach außen abgedrehte und auf der Spitze stehende hintere Fuß ebenso deutlich wie das Schuhwerk: Die Kolchosbäuerin trägt Ballerinas.

Die monumentale Statue gewann – gemeinsam mit dem gegenüber platzierten deutschen Pavillon – den Grand Prix.

Ihr Partner in diesem kommunistischen Tango, der Arbeiter, ist jung und kräftig, sein muskulöser Oberkörper wird nur teilweise durch die Latzhose bedeckt. Von vorne sieht diese aus wie die lederne Schürze des Schmiedes, dem die Figur nachempfunden ist und der schon 1919 zum Stellvertreter der Arbeiterklasse in der politischen Kunst der Bolschewiki wurde.11 In der bolschewistischen Adaptation der Figur verbanden sich populäre Mythen mit politischer Ideologie.12 Die Bedeutungen erweiterten sich. So war das „Umschmieden“ durch harte Arbeit ein von der Propaganda empfohlener Weg, ein neuer Mensch oder zumindest ein Held der sowjetischen Arbeit zu werden. 

Die Kolchosbäuerin zwischen Traktor und Sichel

Die Figur der Kolchosbäuerin hat eine weniger eindeutige Tradition als der Schmied. Als Verkörperung der Bauernschaft diente in den 1920er Jahren der bärtige Mushik mit Bastschuhen.13 Erst mit der Kollektivierung übernahm 1929 die Kolchosbäuerin diese Rolle.14 Die Apotheose der Kolchosbäuerin war die Traktoristin. Sie war die Galionsfigur der Erneuerung der Landwirtschaft durch Vergemeinschaftung und Mechanisierung. Die Figur von Wera Muchina verkörpert die athletische Kolchosniza, die in der Propaganda der frühen 1930er Jahre die städtische Bevölkerung von der Kollektivierung überzeugen sollte.

Muchinas Kolchosbäuerin trägt allerdings kein Kopftuch, und ihre Haare sind der städtischen Mode entsprechend kurz geschnitten. Man erkennt sie eigentlich nur an der Sichel, die das Attribut der Bäuerinnen auf Darstellungen der 1920er Jahre war. Hammer und Sichel dienen hier nicht der Arbeit, sondern in einer triumphalen Geste der Darstellung des sowjetischen Staatsemblems.15 

Die Frau mit der Sichel ist allerdings etwas kleiner und einen halben Schritt hinter dem Mann mit dem Hammer zurück.16 Damit wurden implizit herrschende Geschlechterhierarchien nicht nur auf den Neuen Menschen, sondern auch auf das Verhältnis von Arbeiter- und Bauernschaft, und die in der stalinschen Ikonografie fixierte Überlegenheit der Stadt über das Land übertragen. 

Ikone der Populärkultur 

Zurück aus Paris begrüßte die Statue in Moskau die Besucher der 1939 eröffneten Allunions-Landwirtschaftsausstellung, später WDNCh, zu Muchinas Missfallen von einem relativ niedrigen Sockel aus. Zwischen 2003 und 2009 wurde sie aufwändig restauriert und anschließend auf einer am Nordeingang des Ausstellungsgeländes eigens errichteten Rekonstruktion des Pariser Pavillons wieder aufgestellt.

Die kolossale Statue ist fester Bestandteil der sowjetischen und russischen Populärkultur sowie Gegenstand zahlreicher Karikaturen und taucht regelmäßig in der Werbung auf. Die Konzeptkünstler der SozArt hatten die Entlarvung der offiziellen visuellen Klischees zu ihrem Programm erhoben. So gestaltete der seit 1975 in den USA lebende Künstler Alexander Kosolapov (geb. 1943 in Moskau) Arbeiter und Bäuerin in einer Disney-Version als Mickey and Minnie in Bronze (2004).17 Damit drückte er aus, dass die monumentale Form trotz des vorgeblich zeitlosen antiken Pathos ihre ursprünglichen Inhalte längst verloren hatte und zu einer Ikone der Populärkultur geworden war, deren Sinngehalt sich nicht von demjenigen der US-amerikanischen Ikonen Mickey und Minnie Mouse unterschied.


1.Krylova, Anna (2007): Identity, Agency, and the First Soviet Generation, in: Lovell, Stephen (Hrsg.): Generations in Twentieth-Century Europe, Basingstoke, S. 79-100
2.Konstantynów, Dariusz (2001): El obrero y la mujer de la granja colectiva de Vera Mukhina, 1937, in : Historia, Antropología y Fuentes Orales, No. 26, Denuncia Social (2001), S. 23-36. Jungen, Bettina (2005): Kunstpolitik versus Kunst: Leben und Werk der Bildhauerin Vera Muchina (1889-1953). Bielefeld, S. 149-154
3.Hagemeister, Michael/Richers, Julia (2007): Utopien der Revolution: Von der Erschaffung des Neuen Menschen zur Eroberung des Weltraums. in: Haumann, Heiko (Hrsg.): Die Russische Revolution, Köln, S. 131-142
4.Ejgel‘, Isaak (1987): Kremen‘ i kresalo [Feuerstein und Schlageisen], in: VIVOS VOCO Juli 2006, Vosproizvedeno po izdaniju: Skul’ptura i vremja: Rabočij I kolchoznica. Skul’ptura V. I. Muchinoj dlja pavil’ona SSSR na Meždunarodnoj vystavke 1937 goda v Pariže, Moskau
5.Jungen, Kunstpolitik versus Kunst, S. 34 und 71
6.Konstantynów, El obrero y la mujer, S. 24
7.Jungen, Kunstpolitik versus Kunst, S. 163
8.Warburg, Aby (1980): Sandro Botticellis „Geburt der Venus“ und „Frühling“: Eine Untersuchung über die  Vorstellungen von der Antike in der italienischen Frührenaissance (1893), in: Wuttke, Dieter (Hrsg.):  Ausgewählte Schriften und Würdigungen, Baden-Baden, S. 11-64 
9.Warburg, Botticellis „Geburt der Venus“, S. 13
10.Didi-Huberman, Georges (2010): Das Nachleben der Bilder: Kunstgeschichte und Phantomzeit nach Aby Warburg, Frankfurt a.M., S. 380. Auf die (durch das „bewegte Beiwerk“ kaschierte) Blockade wegen der fehlenden Gewichtsverlagerung nach vorne weist auch Jungen, Kunstpolitik versus Kunst, S. 161 hin.
11.Die Figur des Schmiedes hat eine lange Tradition in Europa, in der westeuropäischen und der slawischen Kunst ebenso wie in der sozialistischen politischen Ikonografie. Eine zentrale Rolle für die Entwicklung und Heroisierung der Figur des Arbeiters und vor allem des Schmiedes spielte Ende des 19. Jahrhunderts der belgische Maler und Bildhauer Constantin Meunier (1831-1905). In dieser Zeit wurde die Figur des Arbeiters unter dem Einfluss sozialistischer Strömungen in der europäischen Kunst monumentaler, dekorativer und politischer. Der „universelle“ Schmied wurde als Symbol des industriellen Zeitalters mit reichen Assoziationen und einer Vielzahl von Bedeutungen aufgeladen, vgl.: Bonnell, Viktoria (2009): Ikonografija rabočego v sovetskom političeskom iskusstve. In: Jarskaja-Smirnova, Elena und Romanov, Pavel (Hrsg.): Vizualʹnaja antropologija - režimy vidimosti pri socializme, Moskau, S. 183-214, hier S. 195
12.Bonnell, Ikonografija rabočego, S. 194
13.Waters, Elizabeth (1991): The female form in Soviet political iconography, 1917-32, in Evans Clements, Barbara/Alpern Engel, Barbara/Worobec, Christine D. (Hrsg.): Russia's Women: Accomodation, Resistance, Transformation, Berkeley, S. 225-242, hier S. 232
14.Bonnell, Victoria E. (1993): The Peasant Woman in Stalinist Political Art of the 1930s, in: The American Historical Review, Vol. 98, No. 1 (Feb.), S. 55-82, hier S. 56-57
15.Die Zuschreibung von Industrie und Landwirtschaft über Hammer und Sichel an die Geschlechter fand sich bereits 1920 auf einem Plakat zur Woche des Kindes von Ivan Simakov.
16.Reid, Susan E. (1998): All Stalin’s Women: Gender and Power in Soviet Art of the 1930s, in: Slavic Review 57 Nr. 1, S. 133-173, hier S. 147
17.Sotsart: Mini and Mickey, Worker and Farmgirl
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