Rund 300 Tote, 1400 Verletzte, 6000 Festnahmen und 2700 abgesetzte Richter. Das ist die bisherige Bilanz nach dem türkischen Putschversuch in der Nacht zu Samstag.
Russische Medien debattieren die offenen Fragen: Wer steckt hinter dem Putsch? War am Ende alles nur inszeniert?
Aber auch: Könnte Gleiches in Russland passieren? Und was bedeutet der Putsch für die NATO sowie für die gerade erst aufgefrischte türkisch-russische Freundschaft?
Izvestia: Ende der russisch-türkischen Freundschaft?
Andrej Manoilo, Politikwissenschaftler und Professor an der Moskauer Staatlichen Universität, außerdem Mitglied im Wissenschaftlichen Beirat des Russischen Sicherheitsrats, vermutet in der kremlnahen Izvestia eine Einmischung der USA und ein baldiges Ende der russisch-türkischen Freundschaft:
[...] Der Putsch wurde von der Armee organisiert, die eintritt für „Demokratie, Freiheit und Menschenrechte“. Er sollte die Position Moskaus untergraben (die durch die Wiederaufnahme der Beziehungen zur Türkei gestärkt worden war) und gleichzeitig der ganzen Welt zeigen, was mit politischen Führern passiert, die sich Russland annähern. [...]
Doch Erdogan hat letzten Endes sowohl die aufständischen Generäle als auch die Amerikaner ausgespielt. [...]
[...] als sein [Erdogans] Schicksal am seidenen Faden hing, brauchte er wenigstens einen Verbündeten oder Partner. Ein Land, das ihm im Fall des Falles politisches Asyl gewährt. Jetzt, nach dem Sieg und Gericht über die aufständischen Generäle, wird er zum echten Diktator und braucht keine Hilfe mehr, von niemandem. Und so werden die russisch-türkischen Beziehungen möglicherweise wieder zurückgedreht.
Возможно, к преждевременному выступлению подтолкнули турецких генералов их «партнеры» из Вашингтона, с которыми мятежники согласовывали окончательный план действий. [...] путч, организованный военными, выступающими за «демократию, свободу и права человека», должен был подорвать позиции Москвы (восстановление отношений с Турцией эти позиции укрепило) и одновременно показать всему миру, что бывает с политическими лидерами, взявшими курс на сближение с Россией. [...]
Но Эрдоган в итоге переиграл и мятежных генералов, и американцев. [...]
В условиях, когда его судьба висела на волоске, ему нужен был хотя бы один союзник или партнер — страна, которая в случае чего предоставит ему политическое убежище. Теперь же, после победы и суда над мятежными генералами, он станет полноценным диктатором и ни в чьей помощи уже нуждаться не будет. И тогда, возможно, российско-турецкие отношения будут отыграны назад.
Vedomosti: Gut für Russland in Syrien
Pawel Aptekar dagegen schreibt in der unabhängigen Tageszeitung Vedomosti, dass Russland nun leichteres Spiel mit der Türkei haben wird, wenn es um Syrien geht:
Colta: Besser so
Politologe Wladimir Frolow ist auf dem unabhängigen Portal colta.ru davon überzeugt, dass der Westen froh darüber sein kann, dass der Putsch misslang – und nicht nur der Westen:
Slon: Türkisches Szenario als Vorbild
Oleg Kaschin stellt auf dem unabhängigen Portal slon.ru fest, dass der Kreml Umstürze weltweit stets mit großer Aufmerksamkeit verfolge. Und er stellt die Frage, ob ein Putschversuch seitens der Armee auch in Russland möglich wäre – oder ob vielleicht Putin selbst sich von den Ereignissen in der Türkei inspirieren lassen könnte:
Es lohnt sich, auf 1918 zurückzublicken, als die Bolschewiken für ihre Armee Soldaten und Kommandeure mobilisierten und deren Familienmitglieder als Geiseln nahmen – diese Erfahrung ist sehr wichtig, um das Grundprinzip der Roten Armee zu verstehen, das sich bis heute gehalten hat, wie der Donbass mit seinen anonymen Bestattungen und den Verzichtleistungen der Ehefrauen gezeigt hat: Russische Armeeangehörige muss man sich eher als bewaffnete Geiseln vorstellen und nicht als eine klassische Armee. Und ihr derzeitiger Häuptling, der Volksheld Sergej Schoigu – der ist eben ein Kommissar, also ein vom Kreml eingesetzter Vorgesetzter, und keineswegs der Anführer eines Offizierskorps, das eigene Interessen und Werte besitzt. Sollte es Sergej Schoigu plötzlich in den Sinn kommen, sich an Wladimir Putins Macht zu vergreifen, müsste er mindestens mit Viktor Solotow ein knallhartes Gespräch führen – allein das Sicherungssystem des Kreml vor politischen Überraschungen kann als Meisterwerk der Verteidungskunst gelten [...]
Die russische Armee kann dem Beispiel der türkischen nicht folgen und sich gegen den Kreml erheben – aber den Kreml hindert nichts daran, das türkische Szenario in der Version russischer Verschwörungstheoretiker zu wiederholen und bei uns einen drolligen Putsch zu veranstalten, dessen drollige Niederschlagung zu allem anderen als drolligen Ergebnissen führen wird.
[...] стоит иметь в виду опыт 1918 года, когда, мобилизуя в свою армию солдат и командиров, большевики брали в заложники членов их семей, – этот опыт очень важен с точки зрения понимания базового принципа Красной армии, сохранившегося, как показал опыт Донбасса с анонимными похоронами и отречениями жен, до сих пор – к российским военным правильнее относиться как к вооруженным заложникам, а не как к классической армии, и нынешний ее предводитель, народный герой Сергей Шойгу – он как раз комиссар, то есть назначенный Кремлем начальник, а вовсе не лидер офицерского корпуса, имеющего какие-то свои интересы и ценности. Если вдруг Сергею Шойгу придет в голову посягнуть на власть Владимира Путина, ему придется иметь очень суровый разговор как минимум с Виктором Золотовым – система защиты Кремля от политических неожиданностей сама по себе может считаться шедевром оборонительного искусства. [...]
Да, российская армия не может последовать примеру турецкой и выступить против Кремля – но самому Кремлю вообще ничто не мешает повторить турецкий сценарий в пересказе российских конспирологов и устроить у нас потешный путч, потешное подавление которого приведет к совсем не потешным результатам.
Arkadi Babtschenko (facebook): Da kann Putin noch was lernen
Kriegsreporter Arkadi Babtschenko zeigt sich auf seinem persönlichen Facebook-Account unmittelbar nach den Ereignissen in der Türkei überzeugt, dass Erdogan den Putsch selbst inszenierte:
Нда. Ну, как постановщик шоу, Эрдоган - не очень. Это самый лажовый "военный переворот", который я знаю. Хотя, по-моему, он даже сам не понял, насколько вчера поставил Турцию на грань гражданской войны. Там расклад реально пятьдесят на пятьдесят. Могло бы полыхнуть, как и не ожидал. Ну, прокатило. Сработало. [...] Что ж, мои поздравления эрдоганской Турции с её долгожданной победой над демократией и возвращению к скрепам, величию и мракобесию. Если раньше товарища считали за маленького Путина в плане захвата власти, то теперь, безусловно, Путину есть чему поучиться самому. Собственно, государственный переворот в Турции то как раз и состоялся. Власть захватил Эрдоган. Курдам мои соболезнования, конечно.
Komsomolskaja Prawda: Armutszeugnis der NATO
Im Interview mit dem Radiosender Komsomolskaja Prawda, das vom gleichnamigen Boulevardblatt verschriftlicht wurde, sieht Igor Korotschenko, Chefredakteur der monatlichen Militärzeitschrift „Nationale Verteidigung“, den Putschversuch vor allem als Niederlage der NATO:
dekoder-Redaktion