In Russland werden offenbar systematisch Archivmaterialien über die Opfer stalinistischer Verbrechen zerstört. Bekannt sind nur einzelne Fälle; weder die Zielrichtung noch das Ausmaß der Zerstörung ist bislang klar.
Das Vorgehen russischer Behörden wurde nur zufällig entdeckt. Berichten zufolge erging 2014 eine geheime Anweisung, alle „verjährten“ Registrierkarten von Personen ab 80 Jahren zu vernichten. Offizielle Stellen widersprechen den Vorwürfen und behaupten, dass es sich nur um Einzelfälle handeln könne.
Bei einem kleinen Teil der Gesellschaft ließ die Meldung Alarmglocken schrillen, einen Großteil lässt sie bislang kalt. Bei Umfragen bekunden ohnehin nur rund zwölf Prozent der Menschen in Russland ein großes Interesse für Stalinsche Säuberungen, auch das Fußballfest lässt es gerade wohl schwinden.
Steckt da gezielte Geschichtspolitik dahinter? Und warum sind historische Quellen wichtig für die Gesellschaft? Diese Fragen stellte Pawel Aptekar für Vedomosti.
Einige regionale Informationszentren des Innenministeriums vernichten Registrierkarten von Lagerhäftlingen. Auf das Problem aufmerksam wurde der Historiker Sergej Prudowski. Bei einer Aktenanfrage zum Lageraufenthalt eines Häftlings in Magadan wurde ihm von den dortigen Innenbehörden mitgeteilt, dass die angeforderten Dokumente vernichtet worden seien. Und zwar gemäß einer mit dem Vermerk „Nur zum Dienstgebrauch“ versehenen zwischenbehördlichen Anordnung vom Februar 2014. Laut Kommersant ging diese Anordnung an das Innenministerium, das Justizministerium, das Katastrophenschutzministerium, das Verteidigungsministerium, den [gnose-7771FSB[/gnose], die Drogenaufsichtsbehörde, die Zollbehörde, den FSO (Föderaler Dienst zur Bewachung der Russischen Föderation), den Auslandsnachrichtendienst, die Staatsanwaltschaft und den staatlichen Kurierdienst.
In welchem Maßstab die Anweisung umgesetzt wurde, ist bislang unbekannt. Prudowski sagt: „Vor zwei Jahren habe ich vom Informationszentrum des Innenministeriums in Komi noch ausführliche Auskünfte aus Akten und Registrierkarten ehemaliger Häftlinge erhalten.“
Einzigartiger historischer Fundus
Die Registrierkarten der Häftlinge sind ein einzigartiger historischer Fundus an Informationen über Menschen, die zur Strafverbüßung in Lager geschickt wurden. De facto befindet sich in den Archiven des FSB und in den Staatsarchiven also eine Fortführung der Akten der Repressierten. „Die Registrierkarten ergänzen die Prozessakten um Informationen über den Aufenthaltsort, die Verlegungen und durch zusätzliche Vermerke: die ausgeführte Zwangsarbeit, Krankheiten und Strafen während der Haftzeit“, so Prudowski.
Derartige Anordnungen würden wohl kaum die Geschichtspolitik des Staates widerspiegeln, meint Nikita Sokolow, Begründer der Freien Historischen Gesellschaft. „Die Staatsorgane, insbesondere das Rossarchiv und das Verteidigungsministerium befassen sich aktiv mit der Digitalisierung von Dokumenten. Anschließend werden die Materialien im Netz frei zugänglich gemacht und ermöglichen so jedem Interessierten, die dokumentierten Ereignisse zu den eigenen mythisch verklärten oder politisch gefärbten Versionen ins Verhältnis zu setzen.“
Widersprüchliche Signale
Doch die Signale von oben sind widersprüchlich. Hochrangige Politiker fordern eine Erziehung zum Stolz auf die eigene Geschichte und rechtfertigen Stalin, um kurze Zeit später an der Enthüllung eines Denkmals für die Opfer der Repressionen teilzunehmen und die Repressionen als eine Tragödie zu bezeichnen, die sich nicht wiederholen dürfe. Diese Doppelzüngigkeit ermöglicht auch solche absurden Transformationen wie die Umgestaltung des Museums der Geschichte politischer Repressionen Perm-36 in ein Museum über die Lageraufseher.
Dieser Vorfall hat der Gesellschaft gezeigt, was für ein begrenztes, bürokratisches Verständnis die Archivangestellten des Innenministeriums von ihrer Arbeit haben: Für sie sind die Registrierkarten keine Dokumente von unschätzbarem Wert, sondern einfach nur vergilbtes Papier.
Erstaunlich, dass in Zeiten, wo man über große Erfahrung in der Digitalisierung von historischen Dokumenten verfügt, diese vernichtet werden, ohne auch nur eine Kopie zu erstellen. Das würde wohl kaum viel Zeit, Personal oder Mittel in Anspruch nehmen. Es geht um Registrierkarten – ein Blatt Papier, nicht um umfangreiche Akten.
So ein Umgang mit historischen Materialien macht diese „Arbeit“ zu einem Verbrechen – sei es auch ohne Vorsatz – an der vaterländischen Geschichte und am Gedenken an die Opfer, denen man in öffentlichen Reden neuerdings so gern Respekt bekundet.
Oleg Chlewnjuk, Historiker und Verfasser zahlreicher Bücher über den Großen Terror, sagt: „Bedenkt man, um welche Dokumente es sich handelt und welche Bedeutung das Thema hat, ist ein solches Vorgehen unvernünftig.“ Die heimliche Anordnung offenbart tatsächlich ein tiefschürfendes Problem: den Konflikt zwischen dem, was die Silowiki für die staatlichen Interessen halten, und der gesellschaftlichen Forderung nach Zugang zu wichtigen Informationen. Derartige Säuberungen müssen, selbst wenn sie auf staatliche Anweisung hin geschehen, transparent sein und mit Erklärung von Zielen und Motiven erfolgen.