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Russland und der Kolonialismus

Kolonialimperien – das sind immer die anderen. Und doch hat Russland über eine Vielzahl an Völkern geherrscht und sein Territorium seit dem 16. Jahrhundert auf das 22-Fache vergrößert. Von der Eroberung Sibiriens bis zur angeblichen „Brüderlichkeit der Sowjetvölker“ wird die Kontinuität des russischen Kolonialismus im Krieg gegen die Ukraine besonders deutlich. Die vor diesem Hintergrund erstarkende Idee einer Dekolonisierung Russlands versucht der Kreml mit allen Mitteln zu unterdrücken. 

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Olga Skabejewa

Zweimal täglich erklärt die Moderatorin im Staatsfernsehen die Welt aus Moskauer Sicht. An manchen Tagen ist sie bis zu fünf Stunden mit Desinformation und Kriegshetze nach Vorgaben des Kreml auf Sendung. Skabejewas Spezialgebiet ist der Vollkontakt: Je nach Bedarf werden Gegner provoziert oder niedergebrüllt. 

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Margarita Simonjan

Ihre steile Karriere begann mit einer Lüge im staatlichen Auftrag. Heute kokettiert die Chefin des Propaganda-Senders RT und der staatlichen Medienholding Rossija Sewodnja offen mit ihrer Rolle als Gesicht der russischen Desinformation. Der Kreml belohnt sie großzügig dafür. 

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Schwanensee – Ballett, Requiem und Protestsong

Für Menschen, die in Russland aufgewachsen sind, ist der Schwanensee mehr als ein Ballett von Pjotr Tschaikowski, in dem zierliche Ballerinas in weißen Tutus tanzen. Schwanensee ist eine mächtige historische Referenz – Requiem für sowjetische Staatsmänner und Begleitmusik zum Untergang der Sowjetunion selbst. Mahnung an das Regime und Erinnerung daran, dass am Ende das Gute über das Böse siegt.

„Schwanensee ist eine mächtige historische Referenz – Requiem für sowjetische Staatsmänner und Erinnerung daran, dass am Ende das Gute über das Böse siegt“ / Illustration aus einer der letzten Ausgabe der Novaya Gazeta vom 9. März 2022 © Petr Saruchanow / Novaya Gazeta

Schwanensee ist eine archetypische Geschichte vom Sieg des Guten über das Böse, vom Triumph der Liebe über den Tod, verkörpert durch weiße und schwarze Schwäne. Es geht um eine verzauberte Schwanenprinzessin, die nur durch Liebe erlöst werden kann. Das von Pjotr Iljitsch Tschaikowski nach Märchenmotiven komponierte und 1877 uraufgeführte Ballett war Symbol der sowjetischen Hochkultur und prestigeträchtiger Kulturexport des Kalten Krieges.

Das Politbüro mit seiner alternden, aber starken Hand beanspruchte dieses Ballett als authentisches nationales Erbe und Schaufenster für seine Leistungen. Die weltberühmte Ballerina Maja Plissezkaja tanzte die Rolle der Odette über 800 Mal. In ihrer Autobiografie erinnert sie sich an das Ritual, als ausländische Delegationen mit Schwanensee verwöhnt wurden. Sie kolportiert auch die Anekdote, dass Nikita Chruschtschow sich das Stück so oft ansehen musste, bis ihm übel wurde:

„Wenn ich daran denke, dass ich heute Abend wieder Schwanensee sehen werde, wird mir schon übel. Das Ballett ist wunderbar, aber wie oft kann man es sich anschauen? Nachts träume ich dann von weißen Tutus abwechselnd mit Panzern.“

Die sowjetische Führungsriege musste das Stück nicht nur unzählige Male über sich ergehen lassen, es verfolgte sie bis in den Tod: Beim Ableben Leonid Breschnews 1982 erblickten die Fernsehzuschauer statt des erwarteten Konzerts den Schwanensee. Berichten zufolge soll bei dieser Wahl durch die Fernsehleute die Entstehungsgeschichte des Stücks eine Rolle gespielt haben: Tschaikowski schrieb es in der sogenannten Fomin-Woche fertig, der Woche der Erneuerung nach der Auferstehung Christi, in die auch der Gedenktag an die Verstorbenen (Allerseelen, Radoniza), fällt. Schwanensee ist durchdrungen vom Thema des Todes und schien sich als Symbol öffentlicher, die Nation einender Trauer besonders zu eignen. Auch nach dem Tod von Juri Andropow 1984 und Konstantin Tschernenko 1985 (sie starben alle im Amt) wurde das reguläre Programm jeweils unterbrochen und so lange Schwanensee gezeigt, bis ein Nachfolger gekürt war. So verwandelte sich das Ballett „von der offiziellen Visitenkarte des Bolschoi-Theaters und des sowjetischen Imperiums in eine Trauerveranstaltung mit 32 Fouettés“.1

Auch während des Staatsstreichs gegen Michail Gorbatschow im August 1991 lief Schwanensee im Fernsehen in Endlosschleife. Dieser bedeutungsvolle Code kündete von Unheil und veranlasste die Menschen dazu, auf die Straße zu gehen, um zu erfahren, was los war. Während also die Schwänchen zu Tschaikowskis Melodien tanzten, versammelte sich eine große Menge von Demonstranten vor dem Moskauer Parlamentsgebäude und verhinderte den Putsch der Altkommunisten, nicht aber das Ende der Sowjetunion.

Das Stück ist zugleich eine Ikone des sowjetischen und russischen Traditionalismus. Einerseits vermittelt das Ballett altmodische Virtuosität und Ordnung, andererseits erzeugt es ein Gefühl des Verlusts der sowjetischen Monumentalität und bietet sich als nostalgischer Erinnerungsort an. In Russland wurde der Untergang der Sowjetunion als befreiend, aber auch als beängstigend erlebt.

Vor allem der Tanz der Schwänchen im zweiten Akt wurde zum Kitsch, zu einer abgenutzten Tanzshow, die sowohl im Zeichentrick-Klassiker Nu, Pogodi! (dt. Hase und Wolf) als auch in Comedy Club aufgeführt wird, in Kindergärten und von verkleideten Herren auf Firmenveranstaltungen, von denen später Videos im Internet landen. Und genau das wurde mittlerweile zum Vehikel ironisch unterfütterten Protests. Seit es das Putin-Regime mit der versprochenen Stabilität und Sicherheit zu übertreiben begann und zunehmend repressiv wurde, seit Russland die Ukraine überfiel und öffentliche Kritik harte Strafen nach sich zieht, hat Schwanensee erneut Konjunktur. Aus Kitsch wurde Kult (Susan Sonntag prägte dafür den Begriff camp), und aus Kult ein neues politisches Symbol. Der ukrainische Regisseur Sergei Loznitsa machte in seinem Dokumentarfilm The Event (Sobytije, Belgien 2015) Tschaikowskis Melodie zum Soundtrack der sowjetischen Agonie. Und nun heißt es wieder: Lasst die Schwäne tanzen!

Anlässlich von Putins Wiederwahl 2018 tauchte in Sankt Petersburg ein Graffiti der vier Ballerinas auf, die den Tanz der Schwänchen tanzen. Es wurde von der Künstlergruppe Yav auch auf Instagram verbreitet.2 Als der liberale Fernsehsender Doshd im März 2022 seinen Programm vorübergehend einstellen musste, spielte der Kanal zum Abgang dieselbe sowjetische Aufnahme von Schwanensee, die den Untergang der Sowjetunion einläutete. Im September 2023 veröffentlichte Yav auf Youtube ein Video, in dem ein arrivierter Geschäftsmann (der aussieht wie Jelzin in besseren Zeiten) vor dem Fernseher sitzt und plötzlich mit Schwanensee auf allen Kanälen konfrontiert wird. Die Ballerinen verfolgen ihn bis ins Badezimmer, wohin er sich flüchtet, unausweichlich gerät er selbst in den Tanz der Schwänchen.

 
Schwanensee ist eine archetypische Geschichte vom Sieg des Guten über das Böse, vom Triumph der Liebe über den Tod, verkörpert durch weiße und schwarze Schwäne / Video: Art Gruppa Yav „Tanec“

Das Ende ist nah, lautet die Botschaft, während Kommentare unter dem Video sagen: „Wir warten schon unendliche 20 Jahre auf das Ballett!“ Dazu passt der Refrain eines weiteren Videos mit dem Titel „Schwanensee“, das der Rapper Noize MC Anfang 2023 veröffentlichte:

Wo seid ihr gewesen acht Jahre lang, ihr verdammten Unmenschen
Ich will das Ballett sehen, lass die Schwäne tanzen
Ich will sehen, wie der Alte um seinen „See“ zittert
Verpiss dich vom Bildschirm, Solowjow, lass die Schwäne tanzen“.

 
Schwanensee wurde zum mehrfachen Code: Einmal als Requiem für greise sowjetische Staatschefs, dann als Zeichen für Aufruhr und Umsturz / Video: Noize MC Kooperatiw „Lebedinoje osero

Schwanensee wurde zum mehrfachen Code: Einmal als Requiem für greise sowjetische Staatschefs, dann als Zeichen für Aufruhr und Umsturz. Schwanensee ist der Erinnerungsort aller, die den Augustputsch 1991 miterlebt haben, der das Ende der Sowjetunion einläutete. Die dritte, aktualisierte Bedeutung macht das Stück und seine Teile (Bilder, Melodien) zum popkulturellen Code gegen das Putin-Regime. Es verweist ironisch auf die Kontinuitäten von Machtstrukturen, auf Parallelen zwischen dem sowjetischen Regime und dem Putinismus. Und es droht diesem mit dem baldigen Ende, mit dem Sieg des Guten über das Böse: Es ist Zeit, die Schwänchen tanzen zu lassen!


Literatur: 

Ezrahi, Christina (2012): Swans of the Kremlin. Ballet and Power in Soviet Russia, Pittsburg.
Pliseckaja, Мaja (2008): Ja, Majja Pliseckaja…, Moskau.
Sontag, Susan (1964), On Camp, in:  Against Interpretation. New York 1964, S. 275–292.


1.novayagazeta.ru: Pora uže tancevat’ Čajkovskogo
2.themoscowtimes.com: 'Swan Lake' Ballet Graffiti Greets Putin's Inauguration in St. Petersburg
 
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Ein kurzer Augenblick von Normalität und kindlicher Leichtigkeit im Alltag eines ukrainischen Soldaten nahe der Front im Gebiet , © Mykhaylo Palinchak (All rights reserved)