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Russland und der Kolonialismus

Kolonialimperien – das sind immer die anderen. Und doch hat Russland über eine Vielzahl an Völkern geherrscht und sein Territorium seit dem 16. Jahrhundert auf das 22-Fache vergrößert. Von der Eroberung Sibiriens bis zur angeblichen „Brüderlichkeit der Sowjetvölker“ wird die Kontinuität des russischen Kolonialismus im Krieg gegen die Ukraine besonders deutlich. Die vor diesem Hintergrund erstarkende Idee einer Dekolonisierung Russlands versucht der Kreml mit allen Mitteln zu unterdrücken. 

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Olga Skabejewa

Zweimal täglich erklärt die Moderatorin im Staatsfernsehen die Welt aus Moskauer Sicht. An manchen Tagen ist sie bis zu fünf Stunden mit Desinformation und Kriegshetze nach Vorgaben des Kreml auf Sendung. Skabejewas Spezialgebiet ist der Vollkontakt: Je nach Bedarf werden Gegner provoziert oder niedergebrüllt. 

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Margarita Simonjan

Ihre steile Karriere begann mit einer Lüge im staatlichen Auftrag. Heute kokettiert die Chefin des Propaganda-Senders RT und der staatlichen Medienholding Rossija Sewodnja offen mit ihrer Rolle als Gesicht der russischen Desinformation. Der Kreml belohnt sie großzügig dafür. 

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Liberale in Russland

Selbst Menschen, die sich als liberal verstehen, zögern in Russland oft, sich so zu bezeichnen und gehen dem Wort aus dem Weg – in der Absicht, keine unerwünschten Assoziationen hervorzurufen. Seit Lenins Zeiten belegte man mit dem Begriff einen besonderen Typus von Gegnern im Ausland: solche, die weder bourgeois genug waren, um sie als Feinde zu betrachten, und zugleich zu weit vom „Volk“ entfernt standen, um mit ihnen auch nur vorübergehende Bündnisse zu schließen. In der frühsowjetischen Zeit erlangte der Begriff „Liberaler“ seine besondere Bedeutung, die bis heute erhalten ist: ein „politischer Schwächling“.

Bis zur Revolution im Jahr 1917 existierte noch keine negative Konnotation des Wortes (nicht zuletzt, weil es noch keine ausdrücklich liberalen politischen Kräfte gab). Wenngleich das Wort „Liberaler“ ein wenig fremd, unrussisch, importiert klang1 und durchaus in abwertenden Kontexten auftauchte2, war es doch mit seiner ursprünglichen gesellschaftlichen und wirtschaftspolitischen Bedeutung noch eng verbunden.

Die zunehmende Entfernung des Worts von seinen vorigen Bedeutungen, wie sie sich in der Sowjetzeit herausbildete, brachte eine paradoxe Situation mit sich: Im Laufe der 2000er Jahre verbreitete sich die Auffassung, Liberale seien „verantwortungslose Staatsgegner“, und vom Wort blieb eigentlich nur noch seine Verwendung als Beschimpfung übrig, für Menschen, die „unfähig sind, Dinge zu regeln“ und die „sich gegen den Staat wenden, weil sie zu nichts anderem in der Lage sind“.

Liberalismus als westliche Krankheit

Der einzige Fall, in dem eine politische Partei das Wort „liberal“ erfolgreich einsetzen konnte, ist die Liberal-Demokratische Partei der Sowjetunion (später – Russlands), die Wladimir Shirinowski im Jahr 1990 als „erste Oppositionspartei der Sowjetunion“ gründete – mit mutmaßlicher Unterstützung des KGB. Heute ist die LDPR eine radikal rechte Vereinigung, die mit eiserner Disziplin ihrem Gründer und ewigen Vorsitzenden ergeben ist. Beide Labels – „demokratisch“ und „liberal“ – verwendet die Partei in einem Sinne, der der geläufigen Bedeutung in Europa diametral entgegensteht.3

Aus der sowjetischen politischen Sprache überlebte die Deutung des Begriffs des Liberalismus als westliche Krankheit politischer Schwäche, Schlampigkeit und Unfähigkeit, für seine Interessen einzustehen. Zugleich etablierte sich durch die LDPR die Vorstellung der „liberalen Demokratie“, die sich mit Shirinowskis demagogischer Rhetorik verband. Zusammengenommen wirkten diese beiden Einflüsse zerstörerisch auf den Begriff des Liberalismus: Das Wort kann heute beinahe alles bedeuten.

Der Liberale wurde zum politischen Hipster

Vor dem Hintergrund der politischen Entwicklungen der Jahre 1999 bis 2016 wurde der Liberale in Russland zum politischen Hipster, der in der traditionell homophoben russischen Gesellschaft auch als „Liberast“ (Liberal + Päderast)  bezeichnet wird. Diese Bezeichnung reduziert das Konzept des Liberalismus auf eine plumpe Beschimpfung, die man gegen jedweden politischen Gegner einsetzen kann. Dadurch, dass der Begriff in die Nähe einer sexuellen Normabweichung rückte, wurde er als politisches Identifikationsmerkmal vollständig entwertet. Es ist daher kein Zufall, dass in den heutigen Diskussionen der beliebte Terminus „Pseudoliberalismus“ als Synonym für Liberalismus gebraucht wird.

Drei Typen des Liberalen

Die Verwendung des Begriffs in den unabhängigen Medien reflektiert zwar oft diese Schimpfwort-Eigenschaft, meistens wird „liberal“ hier aber im lexikalischen Sinne benutzt. Auch gibt es Stimmen, die den Begriff normativ fassen und ihn zum Beispiel analog zum Solidaritätsprinzip der westeuropäischen Gesellschaften begreifen. Daneben sind einzelne zaghafte Versuche anzutreffen, das Stigma positiv umzudeuten: Als ein sogenanntes Geusen-  beziehungsweise Trotzwort soll sich sowohl „liberal“ als auch „liberast“ von der diffamierenden Bedeutung lösen, wie es beispielsweise die US-Schwulenbewegung der 1970er und 1980er Jahre bei dem Begriff „homo“ vorgemacht hat.  

Insgesamt wird das Wort in der modernen russischen Sprache aber vor allem für Personen und weniger für eine politische Orientierung gebraucht. Es gibt im Wesentlichen drei Typen, die verschiedene Facetten des Liberalismus im russischen Verständnis verkörpern. Da ist zunächst Boris Nemzow: Als „Liberast“ (oder politischer Liberaler) wurde er dargestellt als unbeholfener Kritiker der Staatsmacht, als schwacher Oppositioneller, der Freiheit predigt, aber unfähig ist, für sie zu kämpfen.

Zweitens gibt es die so genannten Systemliberalen wie etwa Anatoli Tschubais, Andrej Illarionow oder Alexej Kudrin: Personen, die mit den Mächtigen in engem Kontakt stehen und maximale wirtschaftliche Freiheit fordern, doch dabei von der starken Hand des Staates abhängig sind.

Drittens bezeichnet „Liberaler“ den angeblich käuflichen und zynischen westlichen Politikertypus, der vordergründig von Russland die Einhaltung der Menschenrechte verlangt, in Wahrheit aber bereits davon träumt, bei erster Gelegenheit einen persönlichen Vorteil aus einer politischen und wirtschaftlichen Öffnung (Liberalisierung) Russlands zu ziehen.

Die Begriffsverwirrung um das Liberalismus-Konzept im russischen Sprachgebrauch zeigt sich nicht zuletzt auch darin, dass in russischen Universitäten der politische Liberalismus ausschließlich als zeitgenössisches europäisches Phänomen untersucht wird. Eine Behandlung des Begriffs im russischen Kontext findet – bezeichnenderweise – nicht statt.


1.Vgl.: „Er entpuppte sich als europäischer Liberaler, der seine Theorien nicht an die russischen Umstände anpassen konnte.“ E.A.Draschusowa. Erinnerungen (1848); „Der Liberalismus ist keine Sünde, er ist ein notwendiger Bestandteil des Ganzen, das ohne ihn zerfallen oder absterben würde; der Liberalismus hat dieselbe Existenzberechtigung wie der bestgesittete Konservativismus. Ich greife jedoch den russischen Liberalismus an und wiederhole noch einmal, dass ich ihn speziell deswegen angreife, weil in Russland der Liberale kein russischer Liberaler ist, sondern ein nichtrussischer Liberaler.“ (Fjodor Dostojewski, Der Idiot, Übersetzung von H. Röhl)
2.Vgl.: „Teufel nochmal, warum sagt er, [ich sei] ein Liberaler; ich sage dir: Alle Liberalen sind Schweine.“ Nikolaj Leskow, Ohne Ausweg (1864)
3.Im Archiv der Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen lagern zahlreiche Dokumente der LDPR. Sie könnten aufschlussreich für Forscher sein, die die Versuche der deutschen FDP, in den 1990er Jahren mit der LDPR in Kontakt zu treten, untersuchen wollen. Vom Namen der Partei angezogen, waren die deutschen Liberalen sehr verwirrt, als sie hinter der hübschen Fassade eine chauvinistische, etatistische Organisation vorfanden, die in ihrem ganzen Wesen eigentlich unpolitisch ist.
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Alexej Kudrin (geb. 1960) war zwischen 2000 und 2011 Finanzminister Russlands. Er gilt als einziger Politiker aus dem engeren Kreis Putins, der sowohl im Ausland als auch bei einem Teil der oppositionell gestimmten Bürger Vertrauen genießt. Er trat von seinem Ministerposten zurück, weil er nach Eigenauskunft nicht bereit gewesen war, in der damals anberaumten Regierung von Dimitri Medwedew mitzuarbeiten. Seit Beginn der russischen Wirtschaftskrise kehrte der promovierte Ökonom schrittweise in die Politik zurück. Im April 2016 übernahm er den Ratsvorsitz des regierungsnahen Thinktanks Zentrum für strategische Entwicklung (ZSR). Dort erarbeitete er eine Strategie zur wirtschaftlichen Entwicklung Russlands. Im Mai 2018 wählte die Duma Kudrin zum Vorsitzenden des russischen Rechnungshofs. 

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Ein kurzer Augenblick von Normalität und kindlicher Leichtigkeit im Alltag eines ukrainischen Soldaten nahe der Front im Gebiet , © Mykhaylo Palinchak (All rights reserved)