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Lenins Fahrt in die Revolution

Die Reise Lenins aus dem Schweizer Exil zurück nach Petrograd im April 1917 gehört zu den mythenumwobenen Episoden der Russischen Revolution.
In seiner Essaysammlung Sternstunden der Menschheit (1927) hat Stefan Zweig Lenins Fahrt im „versiegelten Zug“ ein bleibendes Denkmal gesetzt und selbst zur Sagenbildung beigetragen: „Millionen vernichtender Geschosse sind [im Ersten] Weltkrieg abgefeuert worden, die wuchtigsten, die gewaltigsten und weithintragenden Projektile von den Ingenieuren ersonnen worden. Aber kein Geschoss war weittragender und schicksalsentscheidender in der neueren Geschichte als dieser Zug, der, geladen mit den gefährlichsten, entschlossensten Revolutionären des Jahrhunderts, in dieser Stunde von der Schweizer Grenze über ganz Deutschland saust, um in Petersburg zu landen und dort die Ordnung der Zeit zu sprengen.“1

Hier geht es zur Vollbildansicht.

Bis heute ranken sich zahlreiche Legenden um die Rückreise Lenins aus Zürich in das revolutionäre Petrograd, wo wenige Wochen zuvor die Februarrevolution Kaiser Nikolaus II. vom Thron gefegt hatte.

So ist bis heute nicht zweifelsfrei geklärt, wie groß die Gruppe jener Revolutionäre war, die sich 1917 vom Exil in der Schweiz in die russische Hauptstadt aufmachte, und wer sich genau unter den Reisenden befand.

Sicher ist, dass circa 30 Revolutionäre am 9. April 19172 am Hauptbahnhof Zürich kurz nach 15 Uhr den regulären Zug Richtung Schaffhausen bestiegen, um bei Thayngen/Gottmadingen die schweizerisch-deutsche Grenze zu überqueren. Hier wechselten sie in die bereitgestellten Sonderwagen der deutschen Reichsbahn.

Unter den Reisenden waren neben Lenin und dessen Frau Nadeshda Krupskaja führende Revolutionäre wie Karl Radek, Grigori Sinowjew und Inessa Armand. Außer den Bolschewiki waren auch andere sozialistische Gruppierungen, zum Beispiel der jüdische BUND prominent vertreten.

Größtmögliches Chaos

Unter Vermittlung Schweizer Sozialisten hatten die Behörden des Deutschen Reiches dem Transport der Revolutionäre über das eigene Territorium zugestimmt. In Berlin begrüßte man Lenins Ziel, die Provisorische Regierung in Petrograd zu stürzen und auf einen Separatfrieden mit Deutschland im Ersten Weltkrieg hinzuwirken. Die deutschen Behörden hofften, mit Hilfe der politischen Emigranten in Russland ein „größtmögliches Chaos zu schaffen“, wie es der deutsche Gesandte in Kopenhagen, Graf Ulrich von Brockdorff-Rantzau in einer Denkschrift vom 2. April 1917 ausdrückte.3

Deutschland sah mit Schrecken dem drohenden Kriegseintritt der USA entgegen. Vor diesem Hintergrund war man zu jedem Mittel bereit, um den Kriegsgegner im Osten zu schwächen.
 
Die Initiative für Lenins Reise im „plombierten Zug“ ging jedoch nicht von den deutschen Behörden, sondern von den russischen Exilanten in der Schweiz aus. In Zürich, Bern und Genf hatten sich bereits vor dem Ersten Weltkrieg Zentren der politischen Emigration aus dem Zarenreich gebildet. Aktivisten unterschiedlicher, vor allem sozialistischer Gruppierungen suchten in der Schweiz Schutz vor politischer Verfolgung in ihrer Heimat. Nach dem Ausbruch des Krieges kamen weitere russische Flüchtlinge hinzu. Einer von ihnen war Wladimir Iljitsch Uljanow, genannt Lenin, der gemeinsam mit Nadeshda Krupskaja zunächst in Bern, später in Zürich wohnte.

Nachdem sie die Nachricht vom Sturz des Zaren erreicht hatte, gründeten russische Aktivisten auf Vorschlag des Menschewisten L. Martow in Zürich ein Zentralkomitee zur Rückkehr der in der Schweiz weilenden russischen Emigranten. Der Schweizer Sozialist Robert Grimm wurde beauftragt, mit den schweizerischen und deutschen Behörden in Kontakt zu treten, um von letzteren die Erlaubnis des Transits über deutsches Gebiet zu erwirken.

Da Lenin die Verhandlungen jedoch zu langsam vorangingen und er Grimm verdächtigte, die Sache hinauszuzögern, beschloss er, sich auf eigene Faust mit einer kleinen Gruppe von Vertrauten in einer Sonderaktion auf den Weg zu machen.

Sein Mittelsmann war der Schweizer Sozialist Fritz Platten, der Lenin politisch näher stand und der die Reisegruppe bis zur schwedisch-russischen Grenze begleiten sollte. Der Anführer der Bolschewiki wollte keine Zeit verlieren und die Gunst der Stunde nutzen, um in Russland die bürgerliche in eine sozialistische Revolution zu überführen.

Im „plombierten“ Zug

Auf ihrer Reise durch Deutschland wurden die russischen Revolutionäre von zwei deutschen Offizieren begleitet. Die Presse informierte man nicht über den Transport. Kontakte zwischen den Reisenden und der deutschen Öffentlichkeit sollte es keine geben.

Dass der Zug „plombiert“ war, ist allerdings ein Mythos. Gesichert ist jedoch, dass die Deutschen die Abteile der Revolutionäre zum „exterritorialen Gebiet“ erklärten und dort weder Personen- noch Gepäckkontrollen durchführten. Ein mit Kreide gezogener Strich auf dem Boden des Wagens markierte die jeweiligen Bereiche.

Von der schweizerisch-deutschen Grenze nahm der Zug Kurs auf Karlsruhe, um von dort via Offenburg, Mannheim und Frankfurt nach Berlin und von dort weiter nach Sassnitz auf Rügen zu fahren.

Insgesamt dauerte die Fahrt von Zürich nach Petrograd eine Woche. Die Reisenden vertrieben sich die Zeit mit politischen Debatten, Lektüre oder dem Singen revolutionärer Lieder. Lenin wurde ein eigenes Zugabteil zugewiesen, in dem er arbeiten konnte. Gleichzeitig befasste er sich im Zug mit „organisatorischer Arbeit“, wie wir aus den humoristischen Erinnerungen von Karl Radek wissen:
 
„Um einen gewissen Ort im Wagen wurde zwischen den Rauchern und Nichtrauchern ein ständiger Kampf geführt. Wir rauchten nicht im Abteil, aus Rücksicht auf den kleinen Robert [eines der beiden mitreisenden Kinder – Anmerkung des Autors] und Iljitsch, der unter dem Geruch litt. Deswegen versuchten die Raucher, einen gewissen Ort, der eigentlich für andere Zwecke vorgesehen war, in einen Rauchsalon zu verwandeln. Vor diesem Ort stand immerzu eine streitende Menge. Iljitsch zerschnitt daraufhin ein Stück Papier und verteilte Eintrittskarten.“4
 
Am Morgen des 12. April bestiegen die Reisenden ein Schiff nach Trelleborg, wo sie von schwedischen Gesinnungsgenossen begeistert begrüßt wurden. Die nächste Station der Reise war Stockholm, wo ein längerer Zwischenhalt eingelegt wurde. Hier entstanden auch die einzigen Fotografien, die von der Reise existieren. Von der schwedischen Hauptstadt ging es weiter Richtung Norden nach Haparanda an der schwedisch-russischen Grenze, ehe die letzte Etappe der Reise nach Petrograd angetreten wurde. Am 16. April (3. April nach julianischem Kalender) 1917 traf die Reisegruppe gegen 23 Uhr in der russischen Hauptstadt am Finnländischen Bahnhof ein.

Die Revolutionäre bei einem längeren Zwischenstop in Stockholm – in der Bildmitte mit Schirm – Lenin / Foto © Kommersant Archiv

Lenin in Petrograd

Der Petrograder Arbeiter- und Soldatenrat und Lenins Parteifreunde bereiteten ihr einen großen Empfang. Eine Musikkapelle spielte die Marseillaise, Arbeiter und Soldaten standen mit roten Fahnen Spalier auf dem Bahnsteig. Bis heute erinnert auf dem Vorplatz des Bahnhofs das älteste Lenin-Denkmal der Stadt an die Rückkehr des Revolutionsführers nach Petrograd.

In der Sowjetunion war Lenins Rückkehr im Jahr 1917 bald ein Mythos. Die Ankunft des Revolutionsführers markierte in offiziellen Darstellungen den Beginn jener Ereignisse, an deren Ende am 25. Oktober die Machtübernahme durch die Bolschewiki, das heißt die Große Sozialistische Oktoberrevolution stehen sollte.

In seinem Historienfilm Oktober aus dem Jahr 1927 hat der Regisseur Sergej Eisenstein die Ankunft des Revolutionsführers dramatisch überhöht dargestellt. Stalin sollte später dafür sorgen, dass er auf Historiengemälden beim Verlassen des Zuges an der Seite Lenins dargestellt wurde, obgleich er nachweislich nicht unter den Reisenden war. Nach dem Zweiten Weltkrieg ersetzte man den im Krieg zerstörten Finnländischen Bahnhof durch einen Neubau. Mit seinen 17 Fensteröffnungen in der Fassade erinnert auch er an die denkwürdigen Stunden dieses Ortes am 16. April 1917.

Dem Zug Lenins von der Schweiz nach Russland sollten in den kommenden Monaten noch weitere Transporte russischer Emigranten folgen. Insgesamt durchquerten auf diese Art im Jahr 1917 über 400 Revolutionäre deutsches Gebiet. Unter ihnen waren führende Köpfe der revolutionären Bewegung wie L. Martow, Anatoli Lunatscharski oder Angelica Balabanowa. Im Mai kehrte auch Leo Trotzki aus dem amerikanischen Exil nach Petrograd zurück.

Bereits am Tag nach seiner Ankunft proklamierte Lenin vor dem Petrograder Sowjet seine berühmten April-Thesen, in denen er unter anderem den Sturz der Provisorischen Regierung, die Beendigung des Krieges und die Schaffung einer Sowjetrepublik forderte. Damit war die Russische Revolution in eine neue Phase eingetreten.

Handlanger der deutschen Imperialisten

Vorwürfe, die Revolutionäre seien „Handlanger der deutschen Imperialisten“ und würden den Interessen des Feindes dienen, trat Lenin bereits drei Tage nach seiner Ankunft in der Prawda entschieden entgegen. 
Tatsächlich konnten Lenin und seine Mitstreiter die Rückkehr ins revolutionäre Russland nur mit Hilfe der deutschen Reichsregierung realisieren. Der direkte Weg von der neutralen Schweiz ins revolutionäre Russland war ihnen durch die Frontlinien des Ersten Weltkrieges versperrt. Die mit Russland verbündeten Mächte Frankreich und England weigerten sich, den dezidierten Kriegsgegnern den Transit über das eigene Territorium zu gestatten.

Britische Geheimdienstmitarbeiter versuchten sogar, an der russischen Grenze die Einreise politisch missliebiger Personen zu unterbinden. Deutschland dagegen hatte ein strategisches Interesse daran, die innenpolitische Lage in Russland zu destabilisieren und den russischen Exilanten die Rückkehr in die Heimat zu ermöglichen.

In den Worten Leo Trotzkis haben sich im Falle der Reise Lenins „zwei entgegengesetzte historische Pläne in einem Punkte“ gekreuzt, und dieser Punkt sei der „‚plombierte‘ Wagen“ gewesen.5
 
Ein russischer Staatsbürger, der den direkten Kontakt zum deutschen Kriegsgegner suchte, setzte sich jedoch dem Vorwurf des Hochverrats aus. Dies war auch Lenin bewusst. Aus diesem Grund wurde mit dem Sozialisten Fritz Platten ein Bürger der neutralen Schweiz als Mittelsmann eingeschaltet.

Zudem stellte Lenin den deutschen Behörden klare Bedingungen. So sollte der Transport der russischen Exilanten offiziell im Tausch gegen deutsche und österreichische Kriegsgefangene aus Russland erfolgen.

Auch die Deklaration des Zuges zum exterritorialen Gebiet, die „Versiegelung des Zuges“ und die Kontaktsperre zwischen den Reisenden und der deutschen Öffentlichkeit während der Fahrt gingen auf Lenins Initiative zurück.

Großen Wert legten die Reisenden schließlich darauf, die Fahrkarten für den Zug selbst zu bezahlen und kein Geld von dritter Seite anzunehmen (aus diesem Grund reisten die Passagiere dritter Klasse).

Hoffen auf die Weltrevolution

Diese protokollarischen Feinheiten spielten in der späteren Deutung der Zugreise jedoch keine entscheidende Rolle. Winston Churchill hielt bereits 1929 fest, die Deutschen seien gegen die Russen mit der „grauenvollsten aller Waffen“ vorgegangen: „[Sie] transportierten Lenin in einem plombierten Wagen wie einen Pest-Bazillus von der Schweiz hinein nach Russland.“6

Dass Lenin ein „deutscher Spion“ gewesen sei, wie seine politischen Gegner rasch behaupteten, ist jedoch abwegig. Zwar ist bekannt, dass die deutsche Regierung schon in den ersten Kriegsjahren große Summen bereitstellte, um revolutionäre und separatistische Kräfte in Russland (und den anderen Feindstaaten) zu unterstützen. Beträchtliche Summen waren dabei auch für die Bolschewiki bestimmt. Auf die Unterstützung des Deutschen Reiches bei der Rückkehr Lenins nach Petrograd wurde bereits hingewiesen.

Gleichzeitig aber stand für die Revolutionäre außer Frage, dass die Zusammenarbeit mit den deutschen Imperialisten bei diesem Komplott aus rein pragmatischen Gründen erfolgte.

Lenin gab sich überzeugt, dass nach der Vollendung der sozialistischen Revolution in Russland das Deutsche Kaiserreich als nächstes fallen und dieses Ereignis die ersehnte Weltrevolution anstoßen werde. Heute wissen wir, dass es sich bei dieser Vision um einen Wunschtraum der Bolschewiki handelte.

In den Köpfen vieler sowjetischer Kinder war und blieb Lenin ein Eisbrecher: Der erste ging 1917 vom Stapel, der zweite (hier im Bild) 1959 – das war ein Atomeisbrecher, der bis 1989 unterwegs war / Foto © Valentin Kunov/TASS, imago-images

1.Zweig, Stefan (1981): Der versiegelte Zug: Lenin, 9. April 1917, in: ders.: Sternstunden der Menschheit, Frankfurt, S. 240-252, hier: S. 250
2.Alle Daten werden nach gregorianischem Kalender angegeben.
3.zit. nach: Hahlweg, Werner (1957): Lenins Reise durch Deutschland im April 1917, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 5/1957, H. 4, S. 307-333, hier: S. 313
4.Radek, Karl (1972): Im plombierten Waggon, in: Lenin, Wladimir Iljitsch: Abschied von der Schweiz, Zürich, S. 33-46, hier: S. 39f.
5.Trotzki, Leo (1961): Mein Leben: Versuch einer Autobiographie, Berlin,S. 287
6. Churchill, Winston S.  (1929): The World Crisis: The Aftermath, S. 72, zit. nach: Hahlweg, Werner (1957): Lenins Rückkehr nach Russland 1917: Die deutschen Akten, Leiden, S. 4
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