Fotografische Perspektiven auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine: ELENA SUBACH
Links: Eines der Zelte an der Grenze, in denen sich Flüchtlinge ausruhen, aufwärmen und medizinische Hilfe bekommen. Ushgorod, Ukraine, Februar 2022
Rechts: Olena aus Charkiw in einem Schutzraum in Lwiw, ein kurzer Zwischenstopp auf ihrem Weg in die EU. Ukraine, April 2022
Fotos © Elena Subach
ELENA SUBACH
„Wir spüren keine Zukunft mehr“
Die Fotos habe ich in Schutzräumen für Binnenflüchtlinge in Lwiw aufgenommen. Theater, Schulen, Bibliotheken, Kindergärten und Büros wurden in Schutzräume umgewandelt. Außerdem nehmen die Bewohner von Lwiw auch viele Menschen bei sich zu Hause auf. Lwiw in der Westukraine, die Stadt, in der ich lebe, ist heute ein wichtiger Fluchtort für mehr als 200.000 Ukrainerinnen und Ukrainer, die wegen des Krieges von zu Hause fliehen mussten. Einige von ihnen werden nach Hause zurückkehren können, einige nicht, weil es nichts gibt, wohin sie zurückkehren können. Die Städte, aus denen sie kommen, sind womöglich dem Erdboden gleichgemacht, wie zum Beispiel Mariupol.
In einem Team von Gleichgesinnten arbeite ich an einem Projekt, bei dem wir die Geschichten von Menschen aufzeichnen, die wegen des Kriegs gezwungen waren, von zu Hause zu fliehen. Das Ziel unseres Projekts ist eine Dokumentation mit Fakten und den tragischen persönlichen Geschichten dieser Menschen. Nach Fertigstellung wollen wir der Welt dieses Projekt zeigen, obwohl das wahrscheinlich noch lange dauern wird.
Mein Ansatz beim Fotografieren ist mittlerweile ein anderer als in den ersten beiden Kriegswochen, als ich die Serie Chairs at the Border aufgenommen habe. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich das Gefühl, ich dürfe den privaten Raum der Menschen nicht verletzten, denn es würde ihnen Zeit rauben, die sie brauchen, um sich von ihren Angehörigen zu verabschieden. Ich habe nicht gewagt, in ihre sowieso schon fragile und zerstörte Privatsphäre einzudringen, obwohl ich mir der historischen Bedeutung und Wichtigkeit des Moments bewusst war. Auch für mich selbst war alles seltsam, so dass ich mich auf die Suche nach Spuren der Anwesenheit von Menschen begab – das waren Dinge, die sie zurückgelassen hatten. Ich habe einige Stillleben fotografiert. Stühle mit Gegenständen, die dort noch lagen. Das waren für mich Inseln inmitten der Wellen von Menschen, auf denen man innehalten und kurz ausruhen konnte.
Mittlerweile höre ich den Geschichten von Menschen zu und fotografiere sie dann. Manchmal unterhalten wir uns mehrere Stunden, denn jetzt haben sie Zeit und das Bedürfnis, uns von sich zu erzählen. Sehr oft setzen sich diese Bekanntschaften fort. Wir haben ihre Kontaktdaten und versuchen zu helfen, wo wir nur können.
So entstand auch dieses Portrait von Olena, 44. Sie ist mit ihrem kleinen Sohn Jaroslaw (1 Jahr und 7 Monate alt) und ihrer Schwiegermutter aus Charkiw geflohen. Ungefähr zehn Tage nach Kriegsbeginn war Olenas Mann aus dem Haus gegangen, um nach Wasser für die Familie zu suchen. Auf dem Rückweg geriet er in ein Feuergefecht, fiel in ein durch eine Explosion entstandenes Erdloch und brach sich ein Bein. Der Krankenwagen erreichte sie wegen der scharfen Kämpfe in dem Gebiet erst nach zwei Tagen. Nach einem Monat im Keller wurde das Kind allmählich krank und Olena beschloss, die Stadt zu verlassen. Sie stiegen in einen Zug, der Menschen evakuierte, und kamen nach Lwiw. Ihr Mann und ihre Mutter blieben in Charkiw.
Im Krieg erinnern mich die Menschen mehr und mehr an Bäume. Sie sind stark und mächtig, die Tiefe ihrer Wurzeln ist um Vieles größer als die Höhe ihrer Stämme. Doch nun werden diese Bäume entwurzelt und weggeworfen. Nicht jeder kann sich tief genug eingraben, um wieder Wurzeln zu schlagen, nicht jeder wird im Frühling blühen und im Herbst gelbe Blätter kriegen. Wir, alle Ukrainer, spüren keine Zukunft mehr. Alles, was wir noch haben, sind Fragmente der Erinnerung an das, was vor Februar geschah. Aber viele von uns haben nichts mehr.
The photos you can see here were taken in Lviv shelters for internally displaced persons. Theaters, schools, libraries, kindergartens, and offices have been converted into shelters. Moreover, Lviv residents also take in many people at their own homes. Today, Lviv in Western Ukraine, the city, where I live, has become a great refuge for more than 200,000 Ukrainians who have been forced to flee their homes because of the war. Some of them will be able to get back home, and some will not because there will be nowhere to return to. The cities where they lived may be wiped off the face of the earth, as is the case with Mariupol.
With a team of like-minded people, I am working on a project which deals with recording the stories of people who were forced to flee their homes because of the war. The end goal of the project is the creation of a document of recorded facts and tragic personal stories of those people. We aim to show this document to the world when the project is ready, although I understand that this may not happen soon.
Now my approach to taking photos is different from what it was during the creation of Chairs at the Border series in the first two weeks of the war. At that point in time, I felt that I could not violate people's private space, because it would take their time, which they would rather like to use saying goodbye to their relatives. I did not dare to interfere in their already fragile and ruined private space, although I understood the historicity and importance of the moment. Also, for me personally, everything was strange, so I looked for traces of people’s presence—the things which remained after they left. I took a number of still life photos. I photographed chairs with the objects left on them, since they seemed to me like islands among waves of people, that is, places where one could stop and rest for a moment.
Now I listen to people’s stories before taking their photos. Sometimes we talk for a few hours because now they have time for it and feel the need to tell us about themselves. Very often these acquaintances have a continuation. Having the contacts of the people, we try to help them as much as possible.
This is a portrait of Olena, 44. She fled Kharkiv with her young son Yaroslav, who is 1 year and 7 months old, and her mother-in-law. About 10 days after the start of the war, Olena's husband left home to find and bring water to the family. On the way back, he came under gunfire, fell into a pit left after the explosion and broke his leg. The ambulance was able to reach them only in 2 days, because fierce battles were fought in their area. After a month of hiding in the basement, the child began to get sick and Olena decided to leave the city. They boarded an evacuation train and arrived in Lviv. Her husband and mother stayed in Kharkiv.
In wartime, people remind me more and more of trees. They are strong and powerful, the depth of their roots is many times greater than the height of their trunks. However, now these trees are uprooted and thrown away. Not everyone can bury themselves enough to take root again, not everyone will bloom in spring and turn yellow in autumn. Now, all of us Ukrainians no longer feel the future. All we have left are the fragments of memories of everything that happened before February. But many of us have nothing left.
ELENA SUBACH
geboren 1980 in Tscherwonohrad, Ukraine
Wirtschaftsstudium an der Staatlichen Universität Wolyn
Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Nationalgalerie Lwiw, Kuratorin, visuelle Künstlerin
AUSSTELLUNGEN (AUSWAHL)
2022 – Home again, Willy-Brandt-Haus, Berlin
2022 — In Ukraine, Gallery at Dobbin Mews, New York
2021 — Odesa Photo Days festival, Who is next to you?, Museum of Odesa Modern Art
2019 — City of Gardens, EEP Berlin (Einzelausstellung)
2019 — Woven Matter at Unseen, Amsterdam
2019 — Fotofestival Lodz
PUBLIKATIONEN u. a. in Weltkunst, SZ Magazin, Vogue Polska, Guardian (UK)