Fotografische Perspektiven auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine:
MAXIM DONDYUK
Dieser Junge war eines der ersten Kinder, die Opfer der russischen Bombenangriffe auf Kyjiw wurden. Seine Eltern und seine Schwester kamen während eines Bombenangriffs ums Leben. Der Junge wurde schwer verwundet ins Kinderkrankenhaus gebracht. Da die Ärzte seinen Namen zunächst nicht kannten, führten sie den Patienten als „Unbekannter #1“ / Foto © Maxim Dondyuk, 28.02.2022, Kyjiw
Maxim Dondyuk
„Dieser Junge steht für tausende von Kindern, die getötet werden“
Der Arzt wollte erst nicht, dass ich dieses Foto mache. Aber ich sagte: Wir müssen das zeigen. Wir müssen zeigen, was Russland tut. Sie töten nicht nur Soldaten in diesem Krieg, sondern auch Familien und Kinder. Dieser Junge steht für tausende von Kindern, die getötet werden. Als der Arzt die Decke abnahm, sah der Junge aus wie Christus. Es war so symbolisch. Erst nach ein paar Tagen teilten mir die Ärzte mit, dass er Semjon hieß und am Tag, nachdem ich das Foto gemacht hatte, verstorben war. Für mich zeigt dieses Bild das Gesicht des Krieges.
Manchmal fragen mich Leute, warum ich mich entschieden habe, Kriegsfotograf zu sein. Die Wahrheit ist, dass ich keiner bin und auch nie einer sein wollte. Aber dies ist mein Land, und ich habe das Gefühl, es ist meine Pflicht, diesen historischen Moment einzufangen für die Gegenwart und für die Zukunft. Es ist sehr schwer, den Krieg zu dokumentieren, wenn er in deinem Land stattfindet, in deiner Stadt, wenn deine Freunde dabei ums Leben gekommen sind, wenn Russland deine Stadt eingenommen hat, wenn du all das siehst. Es ist völlig anders, als wenn du von einem anderen Land in einen Krieg kommst und dann wieder zurückkehrst.
Du fühlst dich traurig, du spürst Aggression sogar gegenüber der ganzen Welt. Warum passiert uns das, warum macht irgendein großes Land einfach, was auch immer es möchte, und das nun schon seit fast einem Jahr. Und all dieser Schmerz, all diese Gefühle, sie wiegen sehr schwer, sie sind zerstörerisch. Ich lege meine Gefühle in die Fotografie. All diese Erfahrungen – Wut, Angst, Enttäuschung, Schmerz, Tränen, Freude. So werden Fotografien mit Leben gefüllt. Je mehr Gefühle du erfährst, desto stärker wird deine Kunst, sei es Fotografie, Malerei, Literatur oder Musik. Deswegen kann objektiver Fotojournalismus, der jede Subjektivität und jegliche Gefühle leugnet, sehr oft einfach langweilig sein – informativ, aber ohne emotionalen Aspekt.
Meistens nutze ich zwei unterschiedliche Bildsprachen, um den Krieg abzubilden. Für mein persönliches Projekt, ein Buch oder Ausstellungen, verwende ich eine poetische, wenn man so will ästhetischere Bildsprache. So können die Menschen in das Bild eintauchen, eine längere Zeit darüber sinnieren. Ich möchte, dass sie nachdenken, sich etwas vorstellen, wahrnehmen. Denken Sie mal an Schlachtenbilder in Museen – die eignen sich nicht für schnelles Draufgucken.
Aber wenn ich für eine Zeitschrift arbeite, dann versuche ich zu schockieren. Denn die Leser haben nur eine Sekunde und ich versuche, einfach – BAMM, sie zu stoppen, zum Innehalten zu bewegen. Es soll wie ein Schrei sein, mittels der Farbe oder der Bildkomposition.
Sometimes people ask me why I decided to be a war photographer. The truth is I’m not and never intended to be. But this is my country now and I feel that this is my duty to capture this historical moment for the present and the future. It is very difficult to document the war when it happened in your country, in your city, when your friends died, when Russia captured your city, when you see all this. It's completely different than when you come to war from another country and then return back. You feel sad, you even feel aggression towards the whole world, why this happened to us, why some big country is doing whatever it wants and has been doing it for almost a year now. And all this pain, all these emotions, they are very heavy, they are destructive. I put my emotions into photography. All that I experience - anger, fear, disappointment, pain, tears, joy. Thus, photographs are filled with life. The more you experience any feelings, the stronger your art, whether it be photography, paintings, literature, or music. That’s why very often objective photojournalism, which denies subjectivity, and emotions, can be simply boring, informative, but without an emotional aspect.
Mostly I use two different visual languages covering the war. For my personal project, for the book or exhibitions, I use more poetic, aesthetic (if you want so) language, so people could immerse in the photograph, and contemplate it for a long period of time, I want them to think, to imagine, to perceive. Think of battle scenes in museums – these are not for a rush viewing. But working for a magazine, I try to shock because their readers have only 1 second and I try to just, boom, make them stop. It should be like screaming, with color or with some composure.
Foto: Maxim Dondyuk
Gesprächsprotokoll und Übersetzung aus dem Englischen: Tamina Kutscher
Konzept und Bildredaktion: Andy Heller
Veröffentlicht am 21.02.2023