Fotografische Perspektiven auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine: Sebastian Wells und Vsevolod Kazarin
Links: Nach massiven Raketenangriffen auf die kritische Infrastruktur in der Ukraine kommt es im gesamten Land immer wieder zu Stromausfällen und Ausfällen der Wasserversorgung. Kyjiw, 24.11.2022. Rechts: Denys. Kyjiw, 04.12.2022. Fotos © Vsevolod Kazarin und Sebastian Wells/Ostkreuz
SEBASTIAN WELLS
„Es hat sich nicht richtig angefühlt, zu fotografieren, ohne viel über die ukrainische Kultur zu wissen“
Seit meiner ersten Reise nach Kyjiw im April 2022 ist die Stadt wie zu einer zweiten Heimat für mich geworden. Es ging mir darum, die Ukraine und den Krieg besser zu verstehen und herauszufinden, welche Rolle ich als Fotograf in einer solchen Situation haben kann – dabei wollte ich auf keinen Fall in Kampfgebiete. Ich konnte viele Menschen kennenlernen und Freundschaften schließen. Zum Beispiel mit Vsevolod Kazarin, mit dem ich dieses Foto von Denys zusammen aufgenommen habe, und auch fast alle anderen Bilder, die in der Ukraine entstanden sind. Denys ist inzwischen 25 Jahre alt und kommt aus Donezk. 2016 floh er als Teenager aus der Stadt. Doch er wollte sie nicht sang- und klanglos verlassen, sagt er. Zusammen mit einem Freund, einer blauen und einer gelben Spraydose und einer Gesichtsmaske bewaffnet, lief er um 4 Uhr morgens zum Lenin-Denkmal im Stadtzentrum. Auf einem der am besten bewachten Orte der Stadt sprühten die beiden eine ukrainische Flagge auf den Sockel der großen Statue. Die beiden rannten zu einem Taxi, fuhren zum Bahnhof und erst nach Charkiw, dann nach Kyjiw.
„Wir waren naive Jugendliche“, sagt er dazu heute. „Erst im Nachhinein ist mir bewusst geworden, wie gefährlich das war.“ Sie filmten ihre Aktion, die ein YouTube-Hit wurde – was für Denys zweifelsohne harte Konsequenzen seitens der russischen Besatzungsverwaltung haben könnte, würde er jetzt nach Donezk zurückkehren. Dann war er ganz allein in Kyjiw – im Winter, ohne Geld, ohne Arbeit, ohne Netzwerk. Fünf Jahre brauchte er, um in der Hauptstadt anzukommen. Heute hat er einen Vintage-Laden und ein Tattoo-Studio im Zentrum von Kyjiw. Von seiner Mutter, die noch in Donezk wohnt, hört er, dass sie dort nur noch einmal in der Woche Wasser haben und dass fast keine Männer mehr arbeiten, weil die meisten im Militär sind – oder bereits an der Front gestorben.
Während meiner Reisen nach Kyjiw habe ich nicht viel fotografiert, aber dafür umso mehr gelernt. Vor allem über die vielseitige Kunstgeschichte des Landes, die in den Breitengraden, in denen ich aufgewachsen bin, fast keine Rolle spielt – obwohl einst im selben Ostblock befindlich.
Es hat sich oft nicht richtig angefühlt, den Alltag zu fotografieren, ohne viel über die ukrainische Kultur zu wissen. Aus der Zusammenarbeit mit Vsevolod ist ein Magazin entstanden: soлomiya. Wir wollten eine Publikation machen, die sowohl für Ukrainer*innen als auch für Menschen in mittel- und westeuropäischen Ländern interessant ist. Das verbindende Mittel dabei ist der Fokus auf junge Menschen und künstlerische Ausdrucksformen. Inzwischen machen wir ein Crowdfunding für die zweite Ausgabe. Ein positives Gefühl in einem ansonsten durch und durch grässlichen Krieg.
SEBASTIAN WELLS
Sebastian Wells ist in Berlin geboren und aufgewachsen. Als Mitglied des Berliner Fotografenkollektivs Ostkreuz und Künstler der Galerie Springer. Er arbeitet im Auftrag und an eigenen Projekten als Dokumentarfotograf. Er studierte Fotografie an der Ostkreuzschule in Berlin, der FH Bielefeld und der KASK School of Arts in Gent.
VSEVOLOD KAZARIN
Vsevolod Kazarin ist ein junger Fotograf, der an künstlerischen, redaktionellen und kommerziellen Projekten arbeitet. Er wurde in der Region Luhansk geboren und wuchs in einem Vorort von Kyjiw auf, wo er derzeit lebt. Nach einem Bachelor-Abschluss in Fotografie an der Kyiv National University of Culture and Arts arbeitete er hauptsächlich in der Modefotografie
GEMEINSAME AUSSTELLUNGEN
2022 Artist Talk and Group Exhibition, soлomiya № 1, Galerie Springer, Berlin
2022 Group Exhibition, soлomiya № 1, Feldfünf Projekträume, Berlin