Fotografische Perspektiven auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine: NORMAN BEHRENDT
dekoder: Sie haben gerade einen Monat lang als „Artist in residence“ in Kyjiw gearbeitet. Warum geht man als Künstler in ein Land, das sich im Krieg befindet?
Norman Behrendt: Der Düsseldorfer Maler Paul Maciejowski hatte die Idee, Künstlern aus Deutschland einen Aufenthalt in Kyjiw zu ermöglichen. Der Titel Ich komme und sehe trifft es sehr gut: Nach bald zwei Jahren sind wir alle ein bisschen abgestumpft und viele wollen nichts mehr vom Krieg hören. Dort hinzufahren, den Alltag zu erleben und den Menschen zu begegnen, war unser Ziel. Als Künstler teilen wir unsere Erfahrungen aus dieser Zeit und können so weiter für das Thema sensibilisieren. In meiner Arbeit beschäftige ich mich schon länger mit der Architektur von Metro-Systemen; da war ich neugierig zu sehen, wie sich die Metro in Kyjiw von einem Transportsystem zu einem Schutzraum verwandelt.
Dieses Foto ist auch in einem Luftschutzbunker entstanden. Wie kam es dazu?
Bevor ich nach Kyjiw kam, habe ich mich gefragt, ob ich dort überhaupt konzentriert arbeiten kann, oder ob ich ständig von Fliegeralarm unterbrochen werde. Tatsächlich hat es fast zwei Wochen gedauert, bis wir zum ersten Mal einen Alarm hatten. Unser Atelier war in einem großen Gebäude, in dem zu Sowjetzeiten das Institut für Automation untergebracht war. Seit einigen Jahren arbeiten dort verschiedene Künstlergruppen. Da gibt es im Keller einen richtigen Bunker mit dicken Betonwänden und schweren Stahltüren. In Kyjiw haben alle auf ihren Handys eine App, die bei Angriffen anzeigt, wo der nächste Schutzraum ist. Aber es kamen gar nicht so viele Menschen in diesen Schutzraum. Die ukrainischen Künstler haben einfach weiter gearbeitet. Die Flugabwehr fängt ja glücklicherweise das Meiste ab.
Das war in den ersten Tagen des russischen Überfalls anders. Auf der Tafel, die dort an der Wand hängt, hat jemand bei jedem Alarm das Datum notiert …
In dem Bunker suchen auch viele Leute Zuflucht, die in der Nähe wohnen oder arbeiten, auch Familien mit Kindern. Diese Daten vermitteln etwas von dem bedrückenden Gefühl, jeden Tag in diesen Bunker zu müssen. Und niemand weiß, wie lange das dauern wird. Ende März hören die Aufzeichnungen auf, aber wir wissen ja, dass der Krieg immer noch andauert. Die Zeichnungen lassen vermuten, dass Kinder sich die Zeit mit Malen vertrieben haben. Das zeigt, dass selbst an so einem Ort die Fantasie lebendig ist.
Haben Sie auch in der Metro fotografiert?
Dafür hätte ich eine Erlaubnis gebraucht, die hatte ich nicht. Aber mich hat sehr beeindruckt, wie routiniert die Kyjiwer mit der Situation umgehen. Viele Schulklassen bringen sich bei einem Luftalarm in der Metro in Sicherheit, deshalb sind dort sehr viele junge Leute. Die Metro in Kyjiw ist sehr tief, teilweise bis zu hundert Meter unter der Erde. Da fühlt man sich sehr sicher. Das Bahnpersonal hat dann faltbare Hocker ausgeteilt, man konnte sich setzen, man konnte auf die Toilette gehen. Und die ganze Zeit fuhren auch die Züge weiter. Menschen kamen und gingen. Überhaupt hatte ich den Eindruck, die Stadt hat eine beeindruckende Resilienz, sie lebt einfach ihr Leben weiter. Wüsste man nicht, dass sich das Land im Krieg befindet, würde man sich vielleicht über die Kontrollposten in der Stadt und die Militärfahrzeuge auf den Straßen wundern. Die Leute gehen zur Arbeit, die Restaurants haben geöffnet, auf den Straßen ist viel Verkehr. Trotzdem merkt man natürlich in Gesprächen, wie der Krieg die Menschen belastet.
Was kann Kunst an so einem Ort schaffen?
Zusammen mit dem Berliner Fotografen Eric Pawlitzky haben wir eine Skulptur gebaut, die aus einem Notausgang und zwei Lüftungsschächten besteht. Aus den Lüftungsschächten waren Geräusche und Ansagen aus der Berliner U-Bahn und der Kyjiwer Metro zu hören. Die Idee war, eine symbolische Verbindung zwischen der deutschen und der ukrainischen Hauptstadt zu schaffen, die seit September 2023 auch Partnerstädte sind. Wir können als Künstler keine U-Bahn-Linie zwischen Berlin und Kyjiw bauen, aber wir können die Idee einer echten Verbindung der beiden Städte in die Köpfe pflanzen.
Ihr Aufenthalt in der Ukraine war ja an sich auch eine solche Verbindung. Wie ist das bei den Künstlern in Kyjiw angekommen?
Die Künstler, aber auch die Menschen generell, die wir getroffen haben, waren alle sehr dankbar. Es bedeutet ihnen viel, wenn andere ganz konkret ihre Verbundenheit mit ihrem Land zeigen. Im Moment kommen außer NGO-Vertretern und Journalisten nur wenige Ausländer. Wir wurden unglaublich warmherzig aufgenommen. Ab 21. November werden unsere Arbeiten im Zentrum für Moderne Kunst M17 gezeigt. Das ist eine unglaubliche Ehre.
Foto: Norman Behrendt
Bildredaktion: Andy Heller
Interview: Julian Hans
Veröffentlicht am 16.11.2023