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Eine neue „goldene Generation“ im ukrainischen Fußball

Das ganze Land steht hinter der Sbirna, der ukrainischen Nationalmannschaft, die gegen Rumänien in die Fußball-Europameisterschaft startet. Der Druck ist groß, die Erwartungen sind hoch – man will  der eigenen Bevölkerung, die sich im Abwehrkampf gegen den russischen Angriffskrieg befindet, ein paar Momente des Glücks und der Genugtuung bescheren. Entsprechend groß ist auch die Hoffnung auf das Weiterkommen des Teams von Trainer Serhij Rebrow, das sich auch in Zeiten des Krieges weiterentwickelt hat. 

Der ukrainische Journalist Yuriy Konkevych erklärt die Gründe für den kleinen Aufschwung im Fußball seines Landes und die Bedingungen, unter denen der Ballsport in Zeiten des Krieges stattfinden kann.

Russisches Original

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Während eines Spiels in der Region Iwano-Frankiwsk knien Kinder nieder, um einem gefallenen Soldaten zu gedenken / Foto © Oleksandr Bondarenko

 

Russland beschießt nach wie vor jeden Tag ukrainische Städte mit Raketen und Kamikaze-Drohnen, und dennoch wurde seit Februar 2024 erlaubt, dass ein Teil der Fans wieder in die Stadien zurückkehrt. Viele Teams hatten gefordert, das Reglement zu ändern und wieder Zuschauer zuzulassen. Es geht nicht ums Geschäft. Der Erlös aus dem Ticketverkauf kann gerade mal die Kosten der Spiele decken. Die Clubs wollten, dass die Arenen nicht verwaist sind, auch nicht während des Krieges. Präsident Wolodymyr Selensky  hatte seinerzeit, im Sommer 2022, die Entscheidung zur Wiederaufnahme des Profifußballs in der Ukraine – damals noch ohne Zuschauer – als Versuch deklariert, zu einem „normalen Leben“ zurückzukehren.

„Wenn es erlaubt ist, große Konzerte zu veranstalten, wenn die Theater und Kinos geöffnet sind, warum sollen dann Fußballspiele mit Zuschauern untersagt sein? Die Fußballer spielen für die Fans.“ So fasste dann Ihor Nadein, der Präsident von Weres Riwne, gegenüber der Leitung des Ukrainischen Fußballverbandes (UAF) das Problem zusammen. Er und die Manager anderer Clubs wurden dann im Winter 2024 erhört. In dem neuen Reglement wurden rund 100 Anforderungen aufgestellt, die zu erfüllen waren, bevor man wieder Zuschauer in die Stadien lässt. Die wichtigste war, dass es in mindestens 500 Metern vom Stadion Luftschutzräume geben muss, die zu Fuß innerhalb von zehn Minuten erreichbar sind. In die Stadien werden genauso viele Fans gelassen, wie die Schutzräume aufnehmen können. Der Zugang zum Stadion muss durch Metalldetektoren erfolgen.

Die Fußballer waren von den Neuerungen begeistert. „Das letzte Mal haben wir vor der Coronapandemie so viele Zuschauer gesehen“, sagte mir der Verteidiger bei Weres Riwne Olexander Kutscherenko nach einem Heimspiel. Es wurde nicht von Luftalarm unterbrochen. Das war eher eine Ausnahme als die Regel. Manchmal wurden die Begegnungen aber gleich mehrere Male durch russische Luftangriffe unterbrochen.

Andrij Schewtschenkos Reformen im ukrainischen Fußball

Dass die Fans wieder in die Stadien gelassen werden, ist nicht die einzige Reform, die Andrij Schewtschenko, Superstar des ukrainischen Fußballs und seit Januar 2024 Präsident des UAF, anstieß. Der Verband war über ein Jahr praktisch führungslos gewesen. Gegen den vorherigen Präsidenten Andrij Pawelko liefen Ermittlungen in einem Korruptionsfall. Die Probleme im ukrainischen Fußball sind durch den Krieg natürlich nur größer geworden. Ein Teil der Clubs ist von der Bildfläche verschwunden. Einige Hundert Schüler von Fußballakademien der Vereine sind ins Ausland gegangen. In der Liga gab es viele Schiedsrichterskandale und die Eigentümer der Vereine konnten sich nicht auf gemeinsame Übertragungsrechte für das Fernsehen einigen.

Die Umstände der Rückkehr von Schewtschenko in die Ukraine, dessen Familie in London lebt, wurden von Fans und Journalisten viel diskutiert. Es wurde vermutet, dass dessen Wahl zum Präsidenten des UAF nicht ohne administrativen Druck seitens der Kanzlei des Präsidenten erfolgt sei. Dieser wollte wohl an der Spitze des ukrainischen Fußballs einen „seiner Leute“ sehen. Die Führungsstruktur des ukrainischen Fußballs ist derart aufgebaut, dass die regionalen Verbände von Leuten angeführt werden, die der Exekutive nahestehen. So war es wohl nur schwer zu bewerkstelligen, einen UAF-Kongress einzuberufen, auf dem Schewtschenko einstimmig zum neuen Präsidenten gewählt wurde, ohne dass es dann wenigstens indirekte Hinweise auf die Präsidialkanzlei gab.

Schewtschenko, der legendäre Spieler und Trainer, begann seine neue Aufgabe mit abrupten Schritten: Fans wurden zu den Spielen zugelassen, im Verband wurde das gesamte Management ausgewechselt, bei den Spielen der Premjer-Liha werden die Schiedsrichter jetzt per Los angesetzt, und die Referees werden mit Lügendetektoren gecheckt. Die Premjer-Liha hat eine eigene Plattform zur Übertragung der Spiele geschaffen und will damit Geld machen. Im Verband gibt es jetzt eine Stelle für interne Ermittlungen, die die Korruption im ukrainischen Fußball bekämpfen soll.

Investitionen und neue Spieler auf dem Markt

Es klingt absurd, aber die Situation des ukrainischen Fußballs hat sich im dritten Jahr der russischen Vollinvasion verbessert. In den drei Profiligen spielten in der abgelaufenen Saison 50 Clubs: 16 in der Premjer-Liha, 20 in der Ersten Liga und 14 in der Zweiten Liga. Mehr noch: Auf dem Fußballmarkt der Ukraine gibt es jetzt neue Spieler, weil große Unternehmen nun in den Fußball investieren. Dabei werden die Gelder nicht nur für den Kauf neuer Spieler eingesetzt wie zu Zeiten des sogenannten Oligarchen-Fußballs, sondern auch für Marketing und Jugendakademien.

Um Erfolge auf der europäischen Ebene kämpfen jetzt nicht nur Dinamo Kyjiw und Schachtar Donezk, sondern auch Dnipro-1 aus Dnipro. Krywbas trägt seine Spiele in Krywy Rih aus, unweit der Front. Der Club, der von Leuten wiederbelebt wurde, die Präsident Selensky nahestehen, gehört in der Premjer-Liha zur Spitzengruppe. In Lwiw hat zwischen den Vereinen Karpaty und Ruch ein Wettringen um Talente und Zuschauer begonnen. Ersterer ist traditionell ein Aushängeschild der Stadt und wird von dem Zuckermagnaten Wolodymyr Matkiwski gesponsort. Karpaty konnte mit einem zweiten Platz sogar seine Rückkehr in die Premjer-Liha sichern. Die Mannschaft wird von Miron Markewitsch trainiert, der Dnipro 2015 bis ins Finale der Europa League geführt hatte.

Die ukrainische Nationalmannschaft singt die Nationalhymne beim Freundschaftsspiel gegen Polen in Warschau am 7. Juni / Foto © Maciej Rogowski/ZUMA Press Wire/IMAGO

Ruch wurde von Hryhorii Koslowsky aufgebaut, dem reichsten Unternehmer der Stadt, der auch weiter in den Verein investiert. Die Fußballakademie von Ruch gilt als die beste in der Ukraine. Die U 19 ist stets bei den Jugendturnieren der UEFA vertreten. Und dann sorgte Polissja Schytomyr für Aufsehen. Der Club wurde im Herbst 2021 von Hennadii Butkewytsch gekauft. Er besitzt ATB, die größte ukrainische Einzelhandelskette. Der Krieg hat seinen Investitionen in den Fußball kein Ende gesetzt. In Schytomyr gibt es zwei Stadien und viele Plätze, eine Fußballakademie, und Spieler, die vom gleichen Niveau sind wie die von Dinamo und Schachtar. Noch fehlen aber die Ergebnisse. Am Ende der Saison ergatterte Polissja gerade noch den fünften Platz und konnte sich somit für die Conference League qualifizieren.

2023 machten zwei weitere Clubs von sich reden, in die viel Geld floss. LNZ aus Tscherkassy (LNZ steht für die LNZ Group bzw. die Lebedynsky-Saatgutfabrik) hat es in die Premjer-Liha geschafft, kaufte dann bekannte Spieler und baut jetzt in Tscherkassy ein Fußballzentrum auf. Der Chef des Aufsichtsrates der Agrarholding LNZ Group, Dmytro Krawtschenko, steht auf Platz 86 der reichsten Ukrainer.

Metalist 1925 Charkiw hat wegen der russischen Angriffe auf die ukrainische Industrie den Besitzer gewechselt. Nach einer Reihe von Raketenangriffen verlor die AES Group, der der Verein früher gehörte, sämtliche Unternehmen in den Sparten Petrochemie, Spirituosen, Bau und Energie. Neuer Besitzer des Vereins wurde im September 2023 Wolodymyr Nossow, der Begründer und Geschäftsführer von WhiteBIT, einer der größten europäischen Kryptobörsen, die in der Ukraine gegründet wurde.

Geld für den Fußball und Rückstellung für die Spieler

Wenn zu Kriegszeiten Profifußball gespielt wird, geht es nicht nur um gewonnene Matches, sondern auch um die moralische Komponente des Geschäfts. Wie verantwortbar ist es, Millionen Euro für das Spiel mit dem Ball auszugeben? Pawlo Petritschenko, Veteran der Streitkräfte der Ukraine, hat im Januar dieses Jahres einen Sturm der Emotionen losgetreten. Als Reaktion auf den Kauf von teuren Legionären durch Schachtar Donezk postete er auf X folgenden Tweet: „Rinat Achmetow  hat sich für 15 Millionen Euro ein brasilianisches Spielzeug gekauft. Das ist ungefähr so viel wie Sternenko [ein ukrainischer Freiwilliger – dek] in all der Zeit für FPV-Drohnen gesammelt hat. Achmetow ist der Krieg egal; seine Mannschaft spielt jetzt einfach nicht mehr in Donezk, sondern in Kyjiw“.

Diejenigen, die Ausgaben für Fußball befürworten, verweisen beharrlich darauf, dass alle Vereine in einem gewissen Umfang für die Armee spenden und der Kauf von Spielern als Investition gilt. Schachtar verdient auch nach Beginn des großangelegten Krieges weiter. Nach Schätzungen des Portals Transfermarkt.de hat der Club aus Donezk seit 2022 für 125 Millionen Euro Fußballer verkauft. Nicht nur Schachtar ist zu einer Politik der großen Investitionen zurückgekehrt. Fast alle Clubs der Premjer-Liha haben aufsehenerregende Transfers getätigt, über die in der Ukraine diskutiert wurde. Eine klare Antwort, ob es richtig ist, während des Krieges mit Geld um sich zu werfen, das in den Fußball fließt, ist nicht in Sicht.

Eine andere problematische Frage: Wie soll man mit Fußballern umgehen, die dienstpflichtig sind und unter die Mobilmachung fallen? Eine der Lösungsvarianten ist hier der Status eines strategisch wichtigen Unternehmens, der eine Rückstellung der Spieler ermöglicht. Mit Stand vom 1. April haben fünf Vereine diesen Status: Schachtar, Dinamo, Obolon Kyjiw, Dnipro-1 und Krywbas.

Schewtschenko und Rebrow: das Star-Duo im ukrainischen Fußball

Die Nationalmannschaft, die Sbirna, ist immer noch das stabilste Aushängeschild des ukrainischen Fußballs. Sie wird von allen geliebt und die Übertragungen sorgen für gute Einschaltquoten, im Hinterland wie in Frontnähe. Das war nicht immer so. Die Nationalmannschaft startete ohne Cheftrainer in die EM-Qualifikation. Die Lage wurde allmählich schwierig. Im März 2023 übernahm diese Funktion vorübergehend Ruslan Rotan, ein ehemaliger Spieler von Dnipro, der gleichzeitig die Mannschaft des Erstligaclubs Oleksandrija und die Jugendauswahl der Ukraine trainierte. Erst im Juli unterzeichnete der Verband den Vertrag mit Serhij Rebrow. Mit ihm qualifizierte sich die Ukraine dann in den Play-Offs  gegen Bosnien-Herzegowina und Island für die EM in Deutschland.

Rebrow kehrte mit seiner Familie in die im Krieg stehende Ukraine zurück. Zuvor war er in Ungarn tätig gewesen, wo er mit Feréncvaros Budapest zweimal die Meisterschaft geholt hatte und sogar in die Gruppenphase der Champions League eingezogen war. Außerdem hatte er zuvor einen guten Vertrag mit al-Ain in den Vereinigten Arabischen Emiraten unterschrieben und dort die Meisterschaft geholt.

„Ich persönlich werde weiterhin die Armee und diejenigen unterstützten, die Opfer des russischen Angriffskrieges wurden. Ich freue mich, dass ich in die Ukraine zurückgekehrt bin, und werde für unseren Staat arbeiten. Meine Familie kehrt ebenfalls zurück. Ich bin sehr froh, dass meine Frau meine Entscheidung so angenommen hat“, sagte Rebrow damals. Schewa [Schewtschenko – dek] und Rebrow sind wieder – wie vor 20 Jahren bei Dinamo Kyjiw – die wichtigsten Akteure im ukrainischen Fußball.

„Der Krieg in der Ukraine geht weiter. Das ist für die Spieler schwierig, die ständig aufs Handy schauen und die Nachrichten verfolgen. In einer solchen Atmosphäre fällt die Arbeit nicht leicht. Wir verstehen, dass wir ein starkes Land repräsentieren. Wir müssen Charakter zeigen“, hatte Rebrow vor dem Spiel gegen Bosnien-Herzegowina gesagt.

Eine neue „goldene Generation“ in der ukrainischen Nationalmannschaft

Die Spieler der aktuellen ukrainischen Nationalmannschaft werden wieder die „goldenen Jungs“ genannt. Dort gibt es erfahrene Führungsspieler und junge Talente. Andrij Jarmolenko und Taras Stepanenko werden von der Motivation getrieben, mit der Sbirna endlich etwas zu gewinnen. Die jungen Spieler wollen sich bei einem großen internationalen Turnier zeigen und beweisen. Die meisten Spieler der heutigen Sbirna hatten es schon 2020 geschafft, bis ins Viertelfinale der EM vorzustoßen. Und sie sind Stammspieler bei Vereinen der europäischen Top-Ligen.

Andrij Lunin hütet bei Real Madrid das Tor, Anatolii Trubin bei Benfica Lissabon. In England ist jetzt eine ganze Brigade Ukrainer am Start: Olexander Sintschenko ist eine zentrale Größe bei Arsenal. Der Transfer des 21-jährigen Mychailo Mudrik von Schachtar zu Chelsea vor zwei Jahren war eine Sensation. Witalii Mikolenko ist bei Everton ein wichtiger Verteidiger, ganz wie Illja Sabarny bei Bournemouth. Viktor Syhankow und Artem Dowbik haben in dieser Saison den spanischen Club FC Girona mit in die Champions League gebracht. Ruslan Malinowsky und Roman Jaremtschuk spielen bei Genua und Valencia. Für Mykola Schaparenko und Wolodymyr Braschko (beide bei Dinamo Kyjiw) sowie für Heorhii Sudakow (Schachtar Donezk) bedeutet die Qualifikation für die EM in Deutschland die Chance, einen europäischen Spitzenclub zu finden und einen vielstelligen Vertrag zu ergattern. Wie dem auch sei: Sie alle werden nicht nur für eine gute Platzierung bei der EM kämpfen, sondern auch für ihr Land. 

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Krieg im Osten der Ukraine

Bei dem bewaffneten Konflikt im Osten der Ukraine beziehungsweise im Donbass handelt es sich um einen Krieg, der von seit April 2014 zwischen ukrainischen Streitkräften und Freiwilligenbataillonen auf der einen Seite sowie separatistischen Milizen der selbsternannten Volksrepubliken von Donezk und Luhansk (DNR und LNR) und russischen Soldaten auf der anderen Seite geführt wurde. Am 24. Februar 2022 befahl Putin den Angriff auf das Nachbarland – aus dem verdeckten ist ein offener Krieg geworden.

Die zentralen Vorgänge, die den Krieg in der Ostukraine bis dahin geprägt hatten: Vorgeblich ging es dabei um die Gebietshoheit der beiden ostukrainischen Verwaltungsbezirke Donezk und Luhansk – dem sogenannten Donbass, der zu etwa einem Drittel nicht unter Kontrolle der ukrainischen Regierung ist. In der Ukraine sowie in der Europäischen Union ist man bis heute überzeugt, dass Russland die Separatisten immer finanziell, personell und logistisch unterstützt hat. Demnach hat Russland den Donbass vor allem als Instrument genutzt, um die Ukraine langfristig zu destabilisieren und somit gleichzeitig kontrollieren zu können. Russland hatte eine militärische Einflussnahme und Destabilisierungsabsichten stets bestritten.

Die Entstehung des Krieges und wie die EU und die USA mit Sanktionen darauf in dem jahrelangen Konflikt reagiert hatten – ein Überblick. 

Nachdem Ende Februar 2014 der ukrainische Präsident Janukowytsch im Zuge der Maidan-Proteste gestürzt wurde, russische Truppen kurze Zeit später die Krim okkupierten und die Annexion der Halbinsel auf den Weg brachten, ist die Situation im Donbass schrittweise eskaliert.

Zunächst hatten pro-russische Aktivisten im April 2014 Verwaltungsgebäude in mehreren ostukrainischen Städten besetzt. Forderungen, die hier artikuliert wurden, waren diffus und reichten von mehr regionaler Selbstbestimmung bis hin zur Unabhängigkeit von der Ukraine und einem Anschluss an Russland.

Während sich in Charkiw die Situation nach der polizeilichen Räumung der besetzten Gebietsverwaltung rasch entspannte, kam es in Donezk und Luhansk zur Proklamation eigener Republiken. Parallel wurden Polizeistationen und Gebäude des ukrainischen Inlandsgeheimdienstes gestürmt sowie dortige Waffenarsenale gekapert. Wenige Tage später traten in der Stadt Slowjansk (Donezker Verwaltungsbezirk) unter dem Kommando des russischen Geheimdienstoberst Igor Girkin erste bewaffnete „Rebellen“ in Erscheinung. Girkin, der bereits zuvor an Russlands Okkupation der Krim beteiligt gewesen war und zwischen Mai 2014 und August 2014 als Verteidigungsminister der DNR fungierte, behauptete später, dass der Krieg im Donbass mitnichten aus einem Aufstand russischsprachiger Bewohner der Region resultierte. Er betonte indes, dass dieser „Aufruhr“ ohne das Eingreifen seiner Einheit schnell zum Erliegen gekommen wäre.1

Eskalation

Tatsächlich begannen die bewaffneten Kampfhandlungen in dem von Girkins Einheit besetzten Slowjansk. Um die Stadt zurückzugewinnen, startete die ukrainische Regierung eine „Anti-Terror-Operation“ mit Beteiligung der Armee. Während die Separatisten in den von ihnen kontrollierten Orten des Donbass im Mai 2014 sogenannte Unabhängigkeitsreferenden durchführen ließen, weiteten sich in der Folgezeit die Gefechte zwischen ukrainischen Streitkräften und Freiwilligenverbänden auf der einen und den Separatisten auf der anderen Seite stetig aus.

In deutschsprachigen Medien und in der internationalen Diplomatie wurde seither häufig von einer „Krise“ oder einem „Konflikt“ gesprochen. Tatsächlich erreichte die militärische Eskalation unter quantitativen Aspekten, die sich auf eine bestimmte Anzahl von zivilen und nicht-zivilen Opfern pro Jahr beziehen, bereits 2014 den Zustand eines Krieges.2 Auch unter qualitativen Gesichtspunkten erfüllte der bewaffnete Konflikt ab 2014 sämtliche Merkmale eines Krieges, wie ihn beispielsweise die Arbeitsgemeinschaft Kriegsursachenforschung der Universität Hamburg definiert3.

Neben der Involvierung russischer Freischärler und Söldner4 mehrten sich im Verlauf der kriegerischen Auseinandersetzungen Berichte über großkalibrige Kriegsgeräte, die den von den Separatisten kontrollierten Abschnitt der russisch-ukrainischen Grenze passiert haben sollen.5 Hierzu soll auch das Flugabwehrraketensystem BUK gehören, mit dem nach Auffassung des internationalen Ermittlungsteams das Passagierflugzeug MH17 im Juli 2014 über Separatistengebiet abgeschossen wurde.6 Reguläre russische Streitkräfte sollen indes ab August 2014 erstmalig in das Geschehen eingegriffen haben, nachdem die ukrainische Seite zuvor stetige Gebietsgewinne verbuchen und Städte wie Kramatorsk, Slowjansk, Mariupol und Awdijiwka zurückerobern konnte.7

Die EU verhängte im Sommer 2014 aufgrund der „vorsätzlichen Destabilisierung“8 der Ukraine weitreichende wirtschaftliche Sanktionen gegen Russland. Russland stritt eine Kriegsbeteiligung eigener regulärer Soldaten jedoch stets ab: So hätten sich beispielsweise Soldaten einer russischen Luftlandlandedivision, die in ukrainische Gefangenschaft geraten waren, nach Angaben des russischen Verteidigungsministeriums verlaufen und die Grenze zur Ukraine nur  aus Versehen überquert.9 Die russische Menschenrechtsorganisation Komitee der Soldatenmütter Russlands indes beziffert die Zahl russischer Soldaten, die im Spätsommer 2014 auf ukrainischem Territorium im Einsatz gewesen seien, mit rund 10.000.10

Einen Wendepunkt des Kriegsverlaufs stellte schließlich die Schlacht um die ukrainische Kleinstadt Ilowajsk dar, bei der die ukrainische Seite im September 2014 eine herbe Niederlage erfuhr und mehrere hundert gefallene Soldaten zu beklagen hatte.11

Die ukrainische Regierung hat die NATO mehrfach vergeblich um Waffenhilfe gebeten. Allerdings legte die NATO spezielle Fonds an, die zu einer Modernisierung der ukrainischen Streitkräfte beitragen sollen. Diese Fonds dienen unter anderem der Ausbildung ukrainischer Soldaten, der Verbesserung von Kommunikationsstrukturen, der Stärkung von Verteidigungskapazitäten im Bereich der Cyberkriegsführung sowie der medizinischen Versorgung von Soldaten.12 Darüber hinaus erhält die Ukraine Unterstützung in Form von sogenannter nichttödlicher Militärausrüstung wie Helmen und Schutzwesten, Funkgeräten und gepanzerten Geländewagen, unter anderem von den USA.13 

Verhandlungen

Die zunehmende Eskalation des Krieges brachte eine Intensivierung internationaler Vermittlungsbemühungen mit sich. Bereits im März 2014 hatte der Ständige Rat der OSZE eine zivile Sonderbeobachtermission für die Ukraine beauftragt und wenig später eine trilaterale Kontaktgruppe zwischen der Ukraine, Russland und der OSZE ins Leben gerufen. Auf Ebene der Staats- und Regierungschefs etablierte sich das sogenannte Normandie-Format zwischen der Ukraine, Russland, Deutschland und Frankreich. Im September 2014 machte es die Unterzeichnung des sogenannten Minsker Protokolls durch die OSZE-Kontaktgruppe möglich.

Nach anhaltenden Kämpfen, vor allem um den Flughafen von Donezk sowie die Stadt Debalzewe, kam es im Februar 2015 zu einem erneuten Zusammentreffen des Normandie-Formats in Minsk. Im Minsker Maßnahmenpaket (Minsk II) konkretisierten die Parteien sowohl einen Plan zur Entmilitarisierung als auch politische Schritte, die zur  Lösung des Konflikts beitragen sollten.

Das Maßnahmenpaket umfasst dreizehn Punkte, die schrittweise unter Beobachtung der OSZE umgesetzt werden sollen. Hierzu gehört der Waffenstillstand sowie der Abzug schwerer Kriegsgeräte und sogenannter „ausländischer bewaffneter Formationen“. Außerdem soll in der ukrainischen Verfassung ein Sonderstatus für die Separatistengebiete verankert werden. Nicht zuletzt sieht das Maßnahmenpaket vor, dass Kommunalwahlen in diesen Gebieten abgehalten werden. Außerdem soll die ukrainisch-russische Grenze wieder durch die ukrainische Regierung kontrolliert werden.14

Entwicklung seit Minsk II

Auch unmittelbar nach der Unterzeichnung des Minsker Abkommens hielten jedoch vor allem in Debalzewe heftige Gefechte an, bis die Stadt schließlich wenige Tage später unter die Kontrolle der Separatisten fiel. Auch hier soll – wie bereits zuvor in Ilowajsk – reguläres russisches Militär massiv in das Kriegsgeschehen eingegriffen haben.15 Erst nach dem Fall von Debalzewe nahmen die Kampfhandlungen ab. Zu Verletzungen der Waffenruhe, Toten und Verletzten entlang der Frontlinie kam es seither dennoch beinahe täglich.16 Dies macht eine Umsetzung des Minsker Maßnahmenpakets bis heute unmöglich.

Schwere Gefechte mit dutzenden Toten brachen zuletzt rund um die Stadt Awdijiwka aus. Awdijiwka, das im Sommer 2014 von ukrainischer Seite zurückerobert wurde und dem Minsker Protokoll entsprechend unter Kontrolle der ukrainischen Regierung steht, hat als Verkehrsknotenpunkt sowie aufgrund der dort ansässigen Kokerei eine besondere strategische und ökonomische Bedeutung. Die Stadt ist in der Vergangenheit immer wieder unter Beschuss geraten.17 Im Januar 2017 kam es dort auch zur Zerstörung kritischer Infrastruktur: Dabei fielen in der Stadt bei Temperaturen von unter minus 20 Grad mehrere Tage die Strom-, Wasser- und Wärmeversorgung aus. Allein am 31. Januar 2017 berichtete die Sonderbeobachtermission der OSZE von mehr als 10.000 registrierten Explosionen – die höchste von der Mission bisher registrierte Anzahl an Waffenstillstandsverletzungen.18

Laut Schätzungen der Vereinten Nationen aus dem Jahr 2019 sind seit Beginn des Krieges im Donbass rund 13.000 Menschen gestorben. Die Anzahl der Verletzten beziffern die Vereinten Nationen mit über 24.000. Bei mehr als 2000 Todesopfern sowie etwa 6000 bis 7000 Verletzten handelt es sich um Zivilisten.19 Menschenrechtsorganisationen geben zudem an, etliche Fälle von Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen dokumentiert zu haben.20 Im November 2016 erklärte die Chefanklägerin des Internationalen Strafgerichtshofs (ICC) in Den Haag, dass Anzeichen für einen internationalen bewaffneten Konflikt zwischen Russland und der Ukraine vorliegen.21 Die russische Regierung zog daraufhin ihre Unterschrift unter dem Statut des ICC zurück. 

Neben tausenden Toten und Verletzten hat der Krieg auch zu enormen Flüchtlingsbewegungen geführt. Das ukrainische Ministerium für Sozialpolitik registrierte bis Mitte 2016 über 1,6 Millionen Binnenflüchtlinge; das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen geht in seinen eigenen Berechnungen derweil von 800.000 bis einer Million Binnenflüchtlingen aus.22 Daneben haben knapp 1,5 Millionen Ukrainer seit Ausbruch des Krieges Asyl oder andere Formen des legalen Aufenthalts in Nachbarstaaten der Ukraine gesucht. Nach Angaben russischer Behörden sollen sich rund eine Million Ukrainer in der Russischen Föderation registriert haben.23


1.vgl.: Zavtra.ru: «Kto ty, «Strelok»?» und Süddeutsche Zeitung: „Den Auslöser zum Krieg habe ich gedrückt“
2.vgl. University of Uppsala: Uppsala Conflict Data Program
3.vgl. Arbeitsgemeinschaft Kriegsursachenforschung der Universität Hamburg: Laufende Kriege
4.Neue Zürcher Zeitung: Nordkaukasier im Kampf gegen Kiew
5.The Guardian: Aid convoy stops short of border as Russian military vehicles enter Ukraine sowie Die Zeit: Russische Panzer sollen Grenze überquert haben
6.vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung: Minutiös rekonstruiert
7.Für eine detaillierte Auflistung der im Krieg in der Ukraine involvierten regulären russischen Streitkräfte siehe Royal United Services Institute: Russian Forces in Ukraine
8.vgl. europa.eu: EU-Sanktionen gegen Russland aufgrund der Krise in der Ukraine
9.vgl. tass.ru: Minoborony: voennoslzužaščie RF slučajno peresekli učastok rossijsko-ukrainskoj granicy
10.vgl. TAZ: Es gibt schon Verweigerungen
11.vgl.Frankfurter Allgemeine Zeitung: Ein nicht erklärter Krieg
12.vgl. nato.int: NATO’s support to Ukraine
13.vgl. Die Zeit: US-Militärfahrzeuge in Ukraine angekommen
14.vgl. osce.org: Kompleks mer po vypolneniju Minskich soglašenij
15.vgl. ViceNews: Selfie Soldiers: Russia Checks in to Ukraine
16.vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung: Wer bricht den Waffenstillstand?
17.vgl. Die Zeit: Wo Kohlen und Geschosse glühen
18.osce.org: Latest from the OSCE Special Monitoring Mission to Ukraine (SMM), based on information received as of 19:30, 31 January 2017
19.vgl.: Office of the United Nations High Commissioner for Human Rights: Report on the human rights situation in Ukraine: 16 August to 15 November 2016
20.vgl. Helsinki Foundation for Human Rights/Justice for Peace in Donbas: Surviving hell - testimonies of victims on places of illegal detention in Donbas
21.vgl. International Criminal Court/The Office of the Prosecutor: Report on Preliminary Examination Activities 2016
22.vgl. unhcr.org: Ukraine
23.vgl. unhcr.org: UNHCR Ukraine Operational Update
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Donezker Volksrepublik

Die Donezker Volksrepublik ist ein von Separatisten kontrollierter Teil der Region Donezk im Osten der Ukraine. Sie entstand im April 2014 als Reaktion auf den Machtwechsel in Kiew und erhebt zusammen mit der selbsternannten Lugansker Volksrepublik Anspruch auf Unabhängigkeit. Seit Frühling 2014 gibt es in den beiden Regionen, die eine zeitlang Noworossija (dt. Neurussland) genannt wurden, Gefechte zwischen den Separatisten und der ukrainischen Armee.

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Grüne Männchen

Als kleine grüne Männchen, manchmal auch höfliche Menschen, werden euphemistisch die militärischen Spezialkräfte in grünen Uniformen ohne Hoheitsabzeichen bezeichnet, die Ende Februar 2014 strategisch wichtige Standorte auf der Krim besetzt haben. Bestritt Moskau zunächst jegliche direkte Beteiligung und verwies auf „lokale Selbstverteidungskräfte“, so gab Präsident Putin später zu, dass es sich dabei um russische Soldaten gehandelt hat. Die grünen Männchen sind inzwischen zu einem kulturellen Symbol geworden.

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