In der vergangenen Woche standen Russland und die Türkei am Rande eines Krieges: 36 türkische Soldaten wurden in Nordsyrien Opfer einer großangelegten Offensive der von Moskau unterstützten Assad-Truppen. Die Türkei reagierte zunächst mit Gegenangriffen, eine Eskalation konnte jedoch vermieden werden.
Am kommenden Donnerstag, dem 5. März 2020, treffen sich nun Putin und Erdoğan in Moskau, um die Situation in der Region Idlib zu besprechen. Der türkische Präsident sagte, dass er sich von den Gesprächen eine Waffenruhe oder andere Lösungen erhoffe. Laut Militärexperten könne bei dem Treffen ein neues Abkommen geschlossen werden, dass das Sotschi-Memorandum vom September 2018 ersetzt. Dieses sah eine Stabilisierung der Region vor: Die Türkei verpflichtete sich darin unter anderem, die islamistischen Milizen von den gemäßigten Anti-Assad-Kräften abzuspalten. Die Assad-Regierung saß nicht mit am Tisch, sondern wurde über das Ergebnis und die Aufteilung der Einflusssphären zwischen Russland und der Türkei lediglich informiert.
Einen Vormarsch syrischer Truppen auf das von der Türkei beanspruchte Idlib sah das Sotschi-Memorandum dabei aber genauso wenig vor wie das zuvor beschlossene Astana-Abkommen. Da Russland die Truppen von Assad bei ihrem Vormarsch auf Idlib zumindest gewähren ließ und die Türkei es nicht schaffte, Anti-Assad-Kräfte aufzuspalten, betrachten manche Beobachter die bisherigen Abkommen zwischen den beiden Ländern als weitgehend wirkungslos.
Ein neuer Anlauf könnte darin bestehen, dass Russland der Türkei nun tatsächlich garantiert, dass die Region Idlib faktisch unter türkische Kontrolle kommt. In diesem Szenario des Politologen und Außenexperten Wladimir Frolow pfeift Russland Assad zurück und überlässt die Region weitgehend der Türkei.
Warum sollte Russland seinen Verbündeten Assad aber im Stich lassen? Unter anderem, weil die Türkei in dem Konflikt sowieso am längeren Hebel sitzt und Russland sich kräftig verkalkuliert hat, meint Frolow auf Republic.
Die Türkei setzt derzeit bei ihrer Operation Frühlingsschild massenweise auf Kampfdrohnen, Kampfflieger, Boden-Boden-Systeme, Spezialeinsatzkräfte und ein begrenztes Bodenkontingent. Mit dem Beginn der Operation hat die Türkei ihre Entschlossenheit demonstriert, eigene existentielle Interessen in Idlib zu verteidigen. Innerhalb von drei Tagen hat sie der syrischen Armee und pro-iranischen Kräften erheblichen Schaden bei Kriegstechnik und Streitkräften zugefügt.
Assad kann, so hat sich gezeigt, die Region Idlib ohne massives militärisches Eingreifen Russlands und ohne Unterstützung des Iran nicht gänzlich unter seine Kontrolle bringen. Er muss dort stoppen, wo er gestoppt wurde.
Die Türkei wiederum musste einsehen, dass sie allein durch Luftangriffe unter vorwiegendem Einsatz von Kampfdrohnen die syrischen Truppen nicht an die Linie des Sotschi-Memorandums von 2018 zurückdrängen kann. Die türkischen Verbündeten aus den Reihen der syrischen Opposition waren nicht schlagkräftiger als die syrische Armee. Für eine Vergrößerung des [türkisch] kontrollierten Gebiets hätte man mit einer ausreichend großen Einheit von Landstreitkräften einmarschieren müssen (aktuell sind dort etwa 4000 Personen) – dafür hätte Erdoğan jedoch weder innenpolitische noch internationale Unterstützung gehabt.
Damaskus war bestrebt, Idlib vollständig zu kontrollieren, um die Hoheit über das Gebiet wiederherzustellen, die Grenze [zur Türkei – dek] zu schließen und um die Bevölkerung, die dem syrischen Regime gegenüber nicht loyal ist, so weit wie möglich in die Türkei abzudrängen. Für Russland war es womöglich wichtig zu demonstrieren, dass es Damaskus darin unterstützt, die territoriale Souveränität im ganzen Land wiederzuerlangen. Außerdem bleibt die Aufgabe, die terroristischen Gruppierungen der HTS niederzuzwingen, um die eigenen Stützpunkte in Latakia endgültig vor terroristischen Drohnenangriffen abzusichern. Allerdings gab es auch Vermutungen, dass ein erheblicher Teil dieser Quadrokopter-Attacken Provokationen seitens alawitischer Pro-Assad-Gruppierungen waren, um Russland in die Operation in Idlib hineinzuziehen. Und Moskau in dieses Abenteuer hineinzuziehen – das ist Assad gelungen.
Womit Moskau nicht gerechnet hatte
Womit Moskau nicht gerechnet hat, war die harte Reaktion der Türkei. Erdoğans Entscheidung, trotz der russischen Präsenz massiv militärische Gewalt gegen die syrische Armee einzusetzen, kam für Moskau unerwartet. Offenbar können wir sowohl über die ineffektive Arbeit unserer Agenten und des elektronischen Nachrichtendienstes in der Türkei sprechen, die die Absichten und die Entschlossenheit Ankaras nicht rechtzeitig erkannt haben, als auch über den übermäßigen Einfluss der syrischen Verbündeten auf die Einschätzungen des russischen Militärkommandos sowie die falsche Einschätzung der Situation durch die politische Führung des Landes. Auch wenn der Luftangriff vom 27. Februar, bei dem 36 türkische Soldaten getötet und mehr als 30 verwundet wurden, tatsächlich von syrischen Flugzeugen durchgeführt wurde (obwohl die Türken etwas anderes glauben und die syrische Luftwaffe bei Dunkelheit nicht fliegt), war es ein Signal an die Türkei, nicht die rote Linie zu überschreiten. Der Luftangriff hat das Ausmaß der militärischen Eskalation der Türkei nur noch verstärkt.
Und hier wird klar, dass die russische Operation in Syrien seit 2015 darauf ausgelegt ist, die syrische Opposition und die Terroristen zu bekämpfen, aber nicht einen großen Staat, geschweige denn ein NATO-Mitglied.
Die Türkei hat mit dem Angriff auf die syrischen Truppen (unter gleichzeitiger Vermeidung eines Zusammenstoßes mit den russischen Luftstreitkräften) gezeigt, dass die russischen Streitkräfte in Syrien schlicht nicht ausreichen, um die Offensive einer mächtigen Armee und Luftwaffe zu verhindern. Die Türkei hat im syrischen Theater von Kriegshandlungen die absolute militärische Überlegenheit, und als Grenzland hat sie unbegrenzte Möglichkeiten zur Eskalationsdominanz.
Die russischen Kräfte in Syrien sind dagegen praktisch isoliert, die Hauptversorgungswege führen durch türkische Meerengen und Luftraum. Ankara hat gezeigt, dass der Sieg Russlands in Syrien und eine Nicht-Wiederholung von Afghanistan unter Mitwirkung der Türkei erreicht wurde, die sich weigerte, „ein zweites Pakistan“ zu werden, und sich stattdessen auf Moskaus Anerkennung ihrer begrenzten, aber grundlegenden Interessen in Nordsyrien verließ. Die Verpflichtung Moskaus, diese Interessen der Türkei zu respektieren, wurde durch die Operation in Idlib verletzt.
Eng abgesteckte Ziele in Syrien, die begrenzten Mittel für ihre Erreichung und die damit verbundenen Risiken sind seit 2015 die Schlüsselfaktoren für den russischen Erfolg. Oberstes Prinzip war es, Vorsicht walten zu lassen, wenn es darum ging, das Verhältnis zu Drittstaaten aufs Spiel zu setzen.
Moskau war in den Konflikt eingetreten, um das Assad-Regime zu retten, um einen Präzedenzfall in der Bekämpfung von Farbrevolutionen zu schaffen, um terroristische Einheiten und die bewaffnete syrische Opposition maximal zu schwächen sowie um eine Basis für die Militärpräsenz in der Region zu schaffen. Diese Aufgaben hat es erfüllt.
Moskau hatte sich nie zur Aufgabe gemacht, die Kontrolle Assads über syrisches Territorium bis zum letzten Zentimeter wiederherzustellen – geschweige denn dazu, das syrische Regime in einem bewaffneten Konflikt mit einem anderen Staat und NATO-Mitglied zu verteidigen. So gesehen geht die aktive Beteiligung der russischen Streitkräfte an der Operation der syrischen Armee in Idlib „weit über die ursprünglich abgesteckten Ziele hinaus und übersteigt die ursprünglich eingegangenen Risiken“, wie der Kriegsberichterstatter Ilja Kramnik in seinem Telegram-Kanal schreibt.
Moskaus Dilemma
Moskaus Einlassen auf die syrische Operation in Idlib mit der starken militärischen Reaktion der Türkei, die die Kampffähigkeit der syrischen Streitkräfte untergrub, brachte Russland vor ein Dilemma: Es entweder selbst auf eine Eskalation der Kampfhandlungen anzulegen (was einer erheblichen Aufstockung der Truppen in Syrien bedurft hätte), indem man Flugzeuge und Luftabwehr auch gegen die türkische Armee einsetzt (man hätte türkische Drohnen abschießen und die kriegswichtige Infrastrukturen der Türken in Idlib und im syrischen Kurdistan bombardieren können – selbstverständlich ohne Schäden auf türkischem Territorium, was den Bündnisfall im Artikel 5 des Nordatlantikvertrags hätte auslösen können). Oder aber man hätte sich still und heimlich wegschleichen und die syrischen Verbündeten mit der Armee Erdoğans allein lassen können.
Klugerweise wurde die zweite Entscheidung getroffen (genauer gesagt, ein paar Tage lang wurde überhaupt nichts entschieden). Moskau hat sich bis zum Montag nicht in den Kriegsverlauf in Idlib eingemischt und so der türkischen Luftwaffe und Artillerie die Möglichkeit eingeräumt, der syrischen Armee, den Hisbollah-Einheiten und der militärischen Infrastruktur (einer Munitionsfabrik, ein paar Flugplätzen) erheblich zu schaden. Doch sich noch weiter zurückzuziehen und eine absolute Niederlage und Erniedrigung des syrischen Verbündeten zuzulassen, hätte dem Image und Status Russlands in der Region und in der Weltpolitik inakzeptablen Schaden zufügen können. Daher stimmte Putin einem Treffen mit Erdoğan in Moskau und einem neuen Abkommen über die Aufteilung Idlibs zu.
Die Schlüsselfrage über die Zukunft Idlibs bleibt aber weiterhin ungeklärt. Die Interessen Moskaus an guten Beziehungen zur Türkei (sowohl, was den wirtschaftlichen, als auch, was den militärstrategischen Bereich angeht) sind weit größer als alle Interessen Russlands an Syrien (diese sind eher bescheiden). In diesem Sinne ist es für Moskau sinnvoller, die türkischen Begehrlichkeiten zu stillen in Bezug auf die Sicherheitszone in Idlib. Die Verantwortung für einen weiteren Kampf gegen HTS/al-Nusra kann man Ankara überlassen.
Idlib muss nicht unbedingt komplett wieder unter die Kontrolle Assads kommen. Schließlich hat Assad einen Bürgerkrieg im eigenen Land entfesselt, dem mehr als 550.000 Menschen zum Opfer fielen und der weitere sechs Millionen Menschen zu Flüchtlingen machte. Dafür muss er aufkommen. Denjenigen Bevölkerungsteil, der gegenüber seinem Regime am stärksten oppositionell eingestellt ist, gewaltsam unter seine Macht und seine Repressionen zu zwingen, ist kontraproduktiv.
Idllib als syrisches Donbass?
Moskau hat einen starken diplomatischen Trumpf in petto – den in Russland erstellten Entwurf einer neuen syrischen Verfassung: Er sieht eine dezentrale Macht und die Autonomie mancher Regionen in Syrien vor. 2017 hat Assad so getan, als würde er die Vorschläge Moskaus nicht wahrnehmen. Nun ist der Moment gekommen, da seine Aufmerksamkeit darauf gelenkt werden sollte.
Denn wenn das „Volk des Donbass” das Recht auf einen „Sonderstatus” innerhalb der Ukraine hat, warum kann das „Volk Idlibs” dann nicht Anspruch auf genau so einen Sonderstatus erheben, wo es doch weitaus mehr Grund hat, eine Zentralregierung zu fürchten (als alawitisch-schiitische religiöse Minderheit, die die sunnitische Mehrheit unterdrückt)? Warum ist die gewaltsame Wiederherstellung der Kontrolle über das Territorium und die Grenzen mit militärischen Mitteln schlecht für die Ukraine, aber gut für Syrien? Warum sollte man auf die Situation in Idlib und auch im syrischen Kurdistan nicht Arbeitsergebnisse nutzen, die im Rahmen der Minsker Abkommen für den Donbass erzielt wurden? Dort finden sich alle nötigen Regulierungs-Komponenten.
Der russischen Diplomatie würde es nicht schaden, größere Konsequenz bei der Anwendung von Schlüsselprinzipien des internationalen Rechts zu demonstrieren. Im Gegenteil, es würde Moskaus Verhandlungsposition sowohl im Donbass als auch in Syrien stärken.